Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Ein Nachwort zum Motto <strong>der</strong> Tagung<br />
gef<strong>und</strong>en hat. Dennoch aber läßt sich nicht bestreiten, daß mit <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong><br />
lebensweltlichen Verankerung religiöser Praxis - durch Prozesse von<br />
Pluralisierung, Globalisierung <strong>und</strong> Migration - das Individuum mehr als zuvor<br />
auf sich selbst zurückgeworfen ist. Die Aneignung religiöser Tradition kann<br />
daher nur noch in bewußter, kritischer Auseinan<strong>der</strong>setzung geschehen.<br />
Individuelle religiöse Selbstbestimmung ist Notwendigkeit <strong>und</strong> Chance<br />
zugleich. Sie führt keineswegs per se zur Auflösung religiöser Gemeinschaften,<br />
wie konservative Gegner <strong>der</strong> Individualisierung vielfach befürchten,<br />
wohl aber zu tiefgreifenden Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> religiösen Gemeinschaftsbildung<br />
<strong>und</strong> Kommunikation (vgl. Nikola Tietze).<br />
Beson<strong>der</strong>s deutlich treten die Wandlungsprozesse wie<strong>der</strong>um bei den<br />
Aleviten <strong>und</strong> den Yeziden zutage, bei denen die Bindung an lokale <strong>und</strong> orale<br />
Traditionen bislang das Überleben <strong>der</strong> Gruppe ermöglicht hat. Genau diese<br />
Bindung ist durch die Migration indes aufgelöst worden, so daß sich beide<br />
Gruppen vor die Her<strong>aus</strong>for<strong>der</strong>ung einer völlig neuen religiösen (o<strong>der</strong> auch<br />
nicht-religiösen) Ortsbestimmung gestellt sehen. An die Stelle <strong>der</strong> traditionellen<br />
klerikalen Dynastien treten intellektuelle Wortführer einer neuen<br />
religiösen o<strong>der</strong> kulturellen Identität; mündliche Traditionen werden<br />
verschriftlicht <strong>und</strong> teils über mo<strong>der</strong>ne Medien wie das Internet kommuniziert;<br />
im Rahmen <strong>der</strong> Neu-Orientierung kommen auch Frauen stärker als zuvor zu<br />
Wort. Die langfristigen Auswirkungen dieses Wandels lassen sich noch nicht<br />
absehen.<br />
Es liegt auf <strong>der</strong> Hand, daß die Umbrüche im religiösen Selbstverständnis<br />
auch zu Konflikten zwischen den Generationen führen. Die Kommunikation<br />
zwischen den Generationen ist schon deshalb schwierig, weil die Präferenzen<br />
<strong>der</strong> sprachlichen Verständigung sich verschieben, beson<strong>der</strong>s dramatisch bei<br />
den Rum-Orthodoxen, <strong>der</strong>en ältere Mitglie<strong>der</strong> sich primär als Araber<br />
verstehen, während die Angehörigen <strong>der</strong> mittleren <strong>und</strong> <strong>der</strong> jüngeren Generation<br />
sich eher als Türken bzw. als Deutsch-Türken o<strong>der</strong> auch als Deutsche sehen<br />
(vgl. Georges Tamer). In welcher Sprache soll <strong>der</strong> Gottesdienst stattfinden; in<br />
welcher Sprache soll <strong>der</strong> Priester predigen? Daß die Entscheidung über solche<br />
f<strong>und</strong>amentalen Fragen nicht ohne heftige Auseinan<strong>der</strong>setzungen geschehen<br />
kann, ist evident.<br />
Vieles spricht dafür, daß <strong>der</strong> Generationenkonflikt von Frauen oftmals<br />
intensiver empf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> erlitten wird als von den Männern. Denn die traditionelle<br />
Rolle <strong>der</strong> Frau in <strong>der</strong> Familie steht mit mo<strong>der</strong>nen Vorstellungen von<br />
Gleichberechtigung <strong>und</strong> Emanzipation in scharfem Kontrast. Junge Frauen<br />
sehen sich daher vor die Notwendigkeit gestellt, ihr eigenes Verständnis von<br />
Weiblichkeit zu entwickeln, <strong>und</strong> zwar oftmals in Konflikt mit <strong>der</strong> Mutter, die<br />
als Repräsentantin <strong>der</strong> alten Ordnung wahrgenommen wird (vgl. Sigrid Nökel).<br />
Der Religion kann in diesem Zusammenhang eine emanzipatorische Funktion<br />
zukommen. Die Transzendenz <strong>der</strong> religiösen Botschaft gegenüber <strong>der</strong> Tradi-<br />
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