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Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...

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Aleviten in Deutschland<br />

Wegbru<strong>der</strong>schaft wurde auch hier nicht aufgegeben, wenn auch ihre religiöse<br />

Bedeutung abgenommen hat. Ähnliches trifft auch auf die Institution des kirve<br />

zu, eine Form <strong>der</strong> Patenschaft, die mit dem Beschneidungsritus zusammenhängt.<br />

Ist es nicht genau das, was Säkularisierung <strong>aus</strong>zeichnet, daß das ehemals Sakrale<br />

rationaler, profaner <strong>und</strong> reflexiver wird, aber nicht ganz verschwindet? Das<br />

hängt m.E. damit zusammen, daß die Auflösung dörflicher Strukturen nicht<br />

einen völligen Abbruch <strong>der</strong> Beziehungen zum Dorf nach sich zog. Hinzu kam,<br />

daß durch die damals gängige Kettenmigration in den Großstädten<br />

Diasporagemeinden entstanden. Auch fand ein reger Pendelverkehr zwischen<br />

Sadt <strong>und</strong> Dorf statt. Die Aleviten zogen es in <strong>der</strong> "Anonymität <strong>der</strong> Großstädte<br />

vor, ihre Identität zu verbergen <strong>und</strong> sich - auch in <strong>der</strong> äußerlichen Religions<strong>aus</strong>übung<br />

- <strong>der</strong> Mehrheit anzupassen", wie Kehl-Bodrogi zutreffend formuliert.<br />

Hinter <strong>der</strong> Fassade <strong>der</strong> Anonymität wurden jedoch landsmannschaftliche<br />

Solidargemeinschaften aufgebaut, die als intermediäre Räume fungierten. Es<br />

kann für den Außenstehenden durch<strong>aus</strong> den Anschein gehabt haben, als würden<br />

bisherige Praktiken verschwinden. Doch handelte es sich dabei m.E. mehr um<br />

ein Identitäts- <strong>und</strong> Stigmamanagement, wie es Goffman (1975) theoretisch<br />

<strong>aus</strong>formuliert hat <strong>und</strong> wie es in einem als feindlich wahrgenommenen Umfeld<br />

allgemein vorkommt. Nach Goffman besteht eine <strong>der</strong> Techniken des<br />

Stigmamanagements darin, Informationen über sich selbst nicht zu offenbaren,<br />

falls erwartet wird, daß es dadurch zur Abwertung <strong>und</strong> Diskreditierung <strong>der</strong><br />

Identität kommt, eine Praxis, die bei <strong>Min<strong>der</strong>heiten</strong> gängig ist <strong>und</strong> im Islam<br />

takkiye genannt wird <strong>und</strong> die nicht nur von den Aleviten, son<strong>der</strong>n ebenso von<br />

den Jezidi, den Assyrern <strong>und</strong> auch sunnitischen Muslimen im nichtmuslimischen<br />

Umfeld häufig praktiziert wird.<br />

Als Faktor gewichtiger erscheint mir dagegen die Tatsache, daß es im Zuge<br />

<strong>der</strong> Politisierung <strong>der</strong> alevitischen Jugend während <strong>der</strong> sechziger <strong>und</strong> siebziger<br />

Jahre schließlich zu einer "subjektiven Säkularisation" kam, wenn ich <strong>der</strong><br />

Einschätzung auch nicht ganz zustimmen kann, "daß die Religion ... für das<br />

Denken <strong>und</strong> Handeln immer mehr an Relevanz (verlor)" (ebenda). Sicherlich,<br />

"(d)ie religiösen Amtsträger büßten ihre Autorität fast vollständig ein", jedoch<br />

wurde die "Tiefenstruktur" auf die neue politische Ideologie übertragen, wie<br />

Bumke (a.a.O.) für die Aleviten in Tunceli festgestellt hat. Die neuen Deutungsmuster<br />

bezogen ihre Strukturdynamik trotz <strong>der</strong> Politisierung <strong>aus</strong> demselben<br />

"affekt-logischen Bezugssystem" wie zuvor. Nun könnte man geneigt sein zu<br />

behaupten, daß gerade diese Eigenschaft den <strong>Kern</strong> <strong>der</strong> alevitischen Lebensauffassung<br />

<strong>aus</strong>macht, d.h., daß sie per se wandlungsfähig ist o<strong>der</strong> "zeitgenössisch",<br />

wie immer wie<strong>der</strong> gern behauptet wird. Gilt das aber nicht für alle<br />

Deutungssysteme, Ideologien, Religionen <strong>und</strong> Lebensauffassungen? Und gibt es<br />

nicht in je<strong>der</strong> sozialen Bewegung Befürworter <strong>und</strong> Gegner, Konservative <strong>und</strong><br />

Reformer, die miteinan<strong>der</strong> um den richtigen Weg, um die wahre Auslegung <strong>der</strong><br />

Botschaft, ringen? Ist nicht vielmehr die "strukturelle Säkularisation" entschei-<br />

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