Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Nikola Tietze<br />
miteinan<strong>der</strong> verschmolzen sind. Sie werden zu subjektiven Handlungsprinizipien<br />
in <strong>der</strong> sozialen Welt, die Individualisierungs- <strong>und</strong> Pluralisierungsprozesse<br />
einleiten. Es geht in diesem Text also um "periphere" Religiositätsformen, die<br />
sich "am <strong>Rand</strong>" <strong>der</strong> islamischen Tradition her<strong>aus</strong>bilden <strong>und</strong> von dort "den <strong>Kern</strong>"<br />
beeinflussen. Die religiöse Institution hat für die von mir untersuchten Männer<br />
ihre Zentralität verloren 2 . Nicht das "<strong>Zentrum</strong>" kontrolliert <strong>und</strong> validiert die<br />
Dazugehörigkeit des Gläubigen, son<strong>der</strong>n das Individuum selbst erklärt seinen<br />
Glauben für gültig <strong>und</strong> konform.<br />
Die empirische Gr<strong>und</strong>lage meiner Überlegungen, die sich auf männliche<br />
Muslime zwischen 16 <strong>und</strong> 30 Jahren <strong>aus</strong> städtischen <strong>Rand</strong>gebieten in Deutschland<br />
beschränken, bilden narrative Interviews <strong>und</strong> teilnehmende Beobachtungen<br />
zwischen 1994 <strong>und</strong> 1997 in HamburgBWilhelmsburg. Alle meine Gesprächspartner<br />
waren türkischer Herkunft <strong>und</strong> mehrheitlich Sunniten. Frauen in<br />
demselben Alter haben an<strong>der</strong>e Biographien <strong>und</strong> sind mit an<strong>der</strong>en Zwängen sowie<br />
sozialen Bil<strong>der</strong>n konfrontiert als Männer. Diese geschlechtsspezifischen<br />
Unterschiede <strong>der</strong> sozialen Erfahrungen legen eine getrennte Untersuchung von<br />
männlichen bzw. weiblichen Religiositätsformen nahe. Im folgenden wird daher<br />
<strong>aus</strong>schließlich von jungen Männer die Rede sein. Um ihre Individualisierung<br />
durch den Islam deutlich zu machen, werde ich zunächst auf die Emanzipation<br />
<strong>der</strong> jungen Muslime von <strong>der</strong> Familienwelt <strong>und</strong> dem traditionellen Solidaritätsmilieu<br />
("hemshrilik", Gokalp 1996) eingehen. In einem zweiten Abschnitt wird<br />
her<strong>aus</strong>gestellt, inwieweit die muslimische Identifikation dem Individuum erlaubt,<br />
sich als handelndes Subjekt in <strong>der</strong> b<strong>und</strong>esrepublikanischen Öffentlichkeit<br />
zu konstituieren (Dubet 1994, Touraine 1995). <strong>Religiöse</strong> Erinnerungsfiguren<br />
(Assmann 1988) stellen die Verbindung zwischen Familienwelt <strong>und</strong> alltäglichem<br />
Handeln in <strong>der</strong> Gesellschaft her. Sie werden daher in einem dritten Unterkapitel<br />
behandelt. Davon <strong>aus</strong>gehend werde ich zusammenfassend vier<br />
Religiositätsformen beschreiben, die für den Individualisierungsprozeß <strong>der</strong><br />
jungen Männer bezeichnend sind.<br />
Die Emanzipation von <strong>der</strong> Familienwelt <strong>und</strong> dem traditionellen<br />
Solidaritätsmilieu<br />
Der zwanzigjährige Sohn eines türkischen Immigranten fährt mit seiner Fußballmannschaft<br />
in den Urlaub in die <strong>Türkei</strong>. Während seine Eltern <strong>und</strong> Schwestern in<br />
einem Dorf in Anatolien ihren Jahresurlaub verbringen, geht er abends in die<br />
Disco, trinkt Alkohol, flirtet mit deutschen Touristinnen im Monokini <strong>und</strong> liegt<br />
in <strong>der</strong> Sonne, um sich zu bräunen B Vergnügungen, die mit <strong>der</strong> islamischen<br />
Orthodoxie kaum vereinbart werden können <strong>und</strong> wenig mit dem traditionellen<br />
Heimaturlaub eines Immigranten zu tun haben. Jeden Donnerstagabend trinkt <strong>der</strong><br />
junge Mann jedoch nur Getränke ohne Alkohol; denn er versteht sich als