Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Der türkische Nationalisierungsprozeß <strong>und</strong> <strong>der</strong> Laizismus<br />
gelungen, an die Stelle <strong>der</strong> Religion zu treten, sofern es sich um soziale, moralische<br />
<strong>und</strong> ästhetische Werte <strong>der</strong> Individuen handelt. Die große Reaktion hat in diesem<br />
Bereich stattgef<strong>und</strong>en. Nach <strong>der</strong> Rückkehr zum Mehrparteiensystem wurde es<br />
wie<strong>der</strong> wichtig, die Unterstützung <strong>der</strong> Massen zu gewinnen. Dadurch gewannen<br />
Sekten <strong>und</strong> Orden wie<strong>der</strong> an Bedeutung. Obwohl sie als Organisationsform nach<br />
wie vor illegal sind, werden sie stillschweigend geduldet <strong>und</strong> als Stimmenfänger<br />
betrachtet.<br />
Der dritte Aspekt, die Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> Religion, ist kein Thema mehr, so daß<br />
es in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung heute allein um die Säkularisierung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
geht. An diesem Punkt sollte auf eine Entwicklung hingewiesen werden, die nicht<br />
von den Kemalisten beabsichtigt <strong>und</strong> entsprechend einkalkuliert worden war. Es<br />
ging ihnen weniger darum, Staat <strong>und</strong> Religion voneinan<strong>der</strong> zu trennen, als um die<br />
staatliche Kontrolle <strong>der</strong> Religion. Man glaubte, die Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
könne schneller vorangetrieben werden, wenn man die Religion unter Kontrolle<br />
habe. Deswegen nahmen die Kemalisten die "Priester-Schulen" (¤mam-Hatip<br />
Okullar9) <strong>und</strong> auch Moscheen unter ihre Kontrolle. Allerdings wurden die<br />
Absolventen <strong>der</strong> Priester-Schulen quasi zu Staatsbeamten. In diesen Schulen wurde<br />
ein neues Beamtentum erzeugt, das bedeutende Positionen im Staatsapparat<br />
(Ministerien) einnahm. Unabhängig davon, ob die Beamten einen religiösen (f<strong>und</strong>amentalen)<br />
Staat wollen o<strong>der</strong> nicht, haben sie auf dem Hintergr<strong>und</strong> ihrer<br />
Erziehung, in <strong>der</strong> sie beständig mit religiösen Motiven konfrontiert waren, <strong>und</strong><br />
unter dem Eindruck, daß ihr Einfluß in <strong>der</strong> Politik unzureichend sei, damit<br />
begonnen, mehr Religiosität in diesem Bereich zu for<strong>der</strong>n.<br />
Hier muß ich auf einen Aspekt eingehen, <strong>der</strong> für das Verständnis des Zusammenhanges<br />
zwischen Religion <strong>und</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung sehr wichtig ist. Ich nenne die<br />
heutige Entwicklung in <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> einen "zweiten Nationalisierungsprozeß". Der<br />
erste Nationalisierungsprozeß fand zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts statt. Beide<br />
weisen in ihren Gr<strong>und</strong>zügen Ähnlichkeiten auf. Es scheint so, als wolle die zweite<br />
Welle <strong>der</strong> Nationalisierung die unvollendete erste vervollständigen. Die erste<br />
Nationalisierungswelle hat ihren Ursprung im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> nahm ab 1908<br />
auch gewaltsame Züge an. Der türkische Staat ist das Ergebnis dieser ersten Welle<br />
<strong>und</strong> zugleich ihr Schlußpunkt in Anatolien. Diese erste Welle hatte trotz ihres<br />
nationalistischen Charakters eine religiöse Gr<strong>und</strong>lage. Die moslemischen Völker<br />
Anatoliens, allen voran die Türken <strong>und</strong> die Kurden, haben sich trotz ihrer internen<br />
Probleme <strong>und</strong> ihrer ungleichen Verhältnisse bewußt o<strong>der</strong> unbewußt geeint <strong>und</strong> die<br />
nicht-muslimischen Völker auch mit dem Mittel des Völkermordes <strong>aus</strong> Anatolien<br />
vertrieben.<br />
Die heutige zweite Nationalisierung findet unter den übriggebliebenen<br />
muslimischen Völkern statt. Es ist ein Differenzierungs- <strong>und</strong> Auflösungsprozeß,<br />
dessen wichtigster Aspekt darin besteht, daß die Religion nunmehr nicht mehr<br />
<strong>aus</strong>reicht, um diese Völker zusammenzuhalten. Die verschiedenen Parteien stützen<br />
sich auf ihre Identität außerhalb ihres Daseins als Moslems. Die türkische Mehrheit<br />
123