Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Individualisierung durch den Islam<br />
Muslim, für den <strong>der</strong> Freitag heilig ist. Diese selbstauferlegte Regel, die auf eine<br />
in <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> verbreitete Tradition zurückgeht, ist keine Farce, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />
ernstzunehmende Ausdruck individueller Religiosität. Indem <strong>der</strong> junge Mann,<br />
<strong>der</strong> hier Deniz genannt wird, einmal in <strong>der</strong> Woche am Vorabend des für den<br />
Muslim zentralen Freitagsgebets das Verbot des Alkohols respektiert, erinnert er<br />
sich seiner Zugehörigkeit zum Islam. Es geht ihm nicht um eine Spiritualität<br />
o<strong>der</strong> eine Ethik, son<strong>der</strong>n um die Identifikation mit einer Gruppe. Deniz ist<br />
Muslim, weil er ein Türke in Deutschland ist, dem die Erinnerung <strong>der</strong> nationalen<br />
Herkunft einen Sinn für das Handeln in <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrepublik gibt. Die in <strong>der</strong><br />
<strong>Türkei</strong> verbreitete Tradition des Alkohlverzichts am Donnerstagabend, die wenig<br />
mit dem institutionalisierten Islam zu tun hat, macht die für Deniz normative<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Herkunft deutlich. Indem sich <strong>der</strong> junge Mann auf ein Element<br />
<strong>der</strong> islamischen Tradition bezieht, ermöglicht er sich "ein Dazugehören", obwohl<br />
er sich von <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Eltern entfremdet hat. Wenn das Leben von Deniz in<br />
einem Hotel an <strong>der</strong> türkischen Mittelmeerküste auch gar nichts mit dem <strong>der</strong><br />
Eltern <strong>und</strong> <strong>der</strong> Großfamilie in Anatolien zu tun hat, so stellt <strong>der</strong> Alkoholverzicht<br />
am Donnerstagabend eine symbolische Gemeinsamkeit her, die sie als Türken<br />
vereinigt. Der Bruch mit <strong>der</strong> Familie <strong>und</strong> ihrer Lebenswelt wird möglich, weil<br />
ein religiös-kulturelles Ritual die "Hintertür" zur Familie <strong>und</strong> zur <strong>Türkei</strong> offen<br />
hält.<br />
Die Konstruktion einer ganz an<strong>der</strong>en Form von Religiosität, die aber eine<br />
ähnliche Funktion für die Emanzipation von <strong>der</strong> Familie besitzt, wird durch das<br />
Beispiel eines jungen Studenten namens Murat deutlich. Ein "integralistischer"<br />
Religionsbegriff hat diesen Mann dazu gebracht, seine gesamte Freizeit in den<br />
Strukturen <strong>der</strong> lokalen Milli GörüÕ-Gemeinschaft zu verbringen. Sein Bildungsweg<br />
hat ihn von seiner Familie entfremdet <strong>und</strong> gleichzeitig einen an<strong>der</strong>en<br />
Zugang zur Religion eröffnet. Seit <strong>der</strong> Rückehr seiner Mutter in die <strong>Türkei</strong>, die<br />
Deutschland nach dem Tod des Vaters verlassen hat, geht Murat nicht mehr in<br />
die "Konsulatsmoschee" (Diyanet), son<strong>der</strong>n eben in den Jugendclub von Milli<br />
GörüÕ. Als Individuum, das <strong>aus</strong>wählt, entscheidet, beurteilt, eignet er sich die<br />
islamische Tradition an <strong>und</strong> kann dadurch als ein "Selbst" sowohl seiner Mutter<br />
als auch seinen Professoren <strong>und</strong> Mitstudenten gegenübertreten 3 . Die Mutter<br />
wünscht die Rückkehr von Murat in die <strong>Türkei</strong> B eine Auffor<strong>der</strong>ung, <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Mann <strong>aus</strong> Respekt vor seinen Eltern nachkommen müßte. Aber in den Augen<br />
dieses Muslims, <strong>der</strong> seine Entscheidungen von dem Glauben an eine Instanz<br />
außerhalb <strong>der</strong> sozialen Welt abhängig macht, zwingt ihn das Praktizieren des<br />
Islam nicht zu einer Umsiedlung in die <strong>Türkei</strong>. Denn in diesem Land kann man<br />
nach den Worten Murats den Glauben nicht besser praktizieren als in<br />
Deutschland:<br />
"In erster Linie muß ich doch ..., da ich ja meinem Glauben in je<strong>der</strong><br />
Hinsicht die größte Priorität gebe, müßte ich erst einmal überlegen,<br />
wie es von meinem Glauben her, wie es denn jetzt ist, wenn ich hier<br />
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