Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Heiner Bielefeldt<br />
interessiert hat. Aber auch viele Angehörige <strong>der</strong> religiösen <strong>Min<strong>der</strong>heiten</strong> selbst<br />
leiden unter dem Gefühl, vom <strong>Zentrum</strong> abgeschnitten zu sein <strong>und</strong> am <strong>Rand</strong>e zu<br />
leben. Daher versuchen sie - manchmal verzweifelt -, zumindest Kontakt zum<br />
<strong>Kern</strong>land zu halten. Dies mag ein Motiv (gewiß nicht das einzige <strong>und</strong> wohl<br />
auch nicht das wichtigste) dafür sein, daß deutsch-türkische Migranten <strong>der</strong><br />
zweiten o<strong>der</strong> dritten Generation Ehepartner in <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> suchen (vgl. Gaby<br />
Straßburger). Daß die türkisch-islamischen Vereine in Deutschland sich nach<br />
wie vor stark an <strong>der</strong> türkischen Politik orientieren o<strong>der</strong> sich direkt an die<br />
türkische Religionsbehörde Diyanet anlehnen, ist bekannt. Aber auch Christen<br />
<strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> bemühen sich, die Erinnerung an ihr Herkunftsland lebendig zu<br />
erhalten. Tragisch ist, daß dies beispielsweise für die Syrisch-Orthodoxen<br />
immer schwieriger wird <strong>und</strong> ihnen das mittlerweile fast ganz verlassene Tur<br />
Abdin im Südosten <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> allenfalls noch als "imaginäres <strong>Zentrum</strong>" geblieben<br />
ist (vgl. Heidi Armbruster).<br />
Es gibt allerdings auch neue Bewegungen in <strong>der</strong> Diaspora, die die Hierarchie<br />
von <strong>Kern</strong> <strong>und</strong> <strong>Rand</strong> durchbrechen. "Laßt uns hier ein Dorf gründen",<br />
schlägt ein Mitglied <strong>der</strong> rum-orthodoxen Kirche in Deutschland vor. Mitten in<br />
<strong>der</strong> Diaspora soll ein neuer <strong>Kern</strong> religiösen Zusammenhaltes in einem multinationalen<br />
Dorf entstehen (vgl. Georges Tamer). Alevitische Intellektuelle sehen<br />
sich berufen, in <strong>der</strong> Diaspora, in <strong>der</strong> die lokal geb<strong>und</strong>ene mündliche Tradition<br />
abzureißen droht, die alevitische Lehre zu verschriftlichen <strong>und</strong> zu systematisieren.<br />
Vielleicht erwächst dar<strong>aus</strong> eine neue alevitische Theologie o<strong>der</strong> Philosophie.<br />
Das neue Selbstbewußtsein des Diaspora-Alevitums zeigt sich institutionell<br />
in <strong>der</strong> allmählichen Abkopplung <strong>der</strong> alevitischen Organisationen in<br />
Deutschland von denen <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> (vgl. Dursun Tan). Ähnliche Wandlungsprozesse<br />
wie die Aleviten machen die Yeziden durch, womöglich sogar in noch<br />
verschärfter Form, hat doch die kleine Gemeinschaft <strong>der</strong> Yeziden mittlerweile<br />
mehrheitlich ihre Heimat in Deutschland gef<strong>und</strong>en (vgl. Banu Yalkut-Bred<strong>der</strong>mann).<br />
Obwohl <strong>der</strong> traditionelle yezidische Klerus seinen Zentralort nach wie<br />
vor im Nordirak hat, versammeln sich Repräsentanten <strong>der</strong> Gemeinde neuerdings<br />
auch in Deutschland. Was meint angesichts solcher Wandlungsprozesse<br />
<strong>Kern</strong>, <strong>und</strong> was heißt dann <strong>Rand</strong>? Noch einmal ganz an<strong>der</strong>s ist die Situation <strong>der</strong><br />
Baha6i, weil sie aufgr<strong>und</strong> ihrer <strong>aus</strong>gesprochen kosmopolitischen Orientierung<br />
die Differenz von <strong>Kern</strong> <strong>und</strong> <strong>Rand</strong> (jedenfalls im territorialen Sinne) ganz<br />
aufgeben wollen (vgl. Aliye Yegane Arani). Aber auch unter den sunnitischen<br />
Muslimen in Deutschland, bei denen die <strong>Türkei</strong>-Orientierung nach wie vor<br />
sehr <strong>aus</strong>geprägt zu sein scheint, bilden sich neue Formen religiöser Praxis <strong>und</strong><br />
religiöser Selbstorganisation her<strong>aus</strong>, die im Laufe <strong>der</strong> Zeit kritisch auf die<br />
islamischen <strong>Kern</strong>län<strong>der</strong> zurückwirken können. Daß die Zahl <strong>der</strong> deutschsprachigen<br />
sunnitischen Moscheen in Berlin zwar nach wie vor klein ist, dennoch<br />
aber zunimmt, belegt den Wandlungsprozeß, <strong>der</strong> auch innerhalb des<br />
sunnitischen Islam in <strong>der</strong> Diaspora stattfindet (vgl. Gerdien Jonker).