pdf-Version - Klaus Kunze
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erzustand, der nicht auf Deutschland beschränkt, sondern in allen hoch<br />
entwickelten Staaten anzutreffen ist. "Das unter der Voraussetzung einer Autonomie<br />
der Gesellschaft entstandene parlamentarische System ist insoweit der<br />
modernen Staatswirklichkeit nicht mehr kongruent, wie die Gesetzgebungsrückstände<br />
der modernen Parlamente erkennen lassen." 619 Heutige Gesetzgebungstätigkeit<br />
ist mehr und mehr auf einen fachjuristischen Mitarbeiterstab angewiesen,<br />
wie ihn faktisch nur die Regierung mit ihrer Ministerialbürokratie effektiv<br />
und dauerhaft leisten kann. Die Realität der täglichen Gesetzgebungsarbeit<br />
der Bundestagsabgeordneten besteht daher darin, daß die Mehrzahl der<br />
Gesetze paketweise die Lesungen durchläuft, ohne daß mehr als einige wenige<br />
Abgeordnete von Einzelheiten ihres Inhalts überhaupt noch Kenntnis nehmen,<br />
geschweige denn sie durchblic??ken oder gar Einzelfragen beeinflussen können.<br />
"Unser Parlament ertrinkt in einer Flut von Gesetzgebungsaufgaben. Die<br />
Gesetze sind zu dick und zu kompliziert, kaum noch jemand versteht sie." 620<br />
Die politischen Grundsatzentscheidungen werden gewöhnlich auf Parteitagen<br />
oder in Verhandlungen der Koalitionsspitzen getroffen, von Beamten der<br />
Ministerien oder von fraktionsangestellten wissenschaftlichen Mitarbeitern ausgearbeitet<br />
und von der Abstimmungsmaschine Bundestag nur noch am Fließband<br />
durch die gesetzlich erforderlichen formalen Verfahrensstationen gepeitscht.<br />
Partei- und Fraktionsdisziplin, in der Praxis oft Fraktionszwang, frustrieren<br />
viele Abgeordnete maßlos; und "häufig sind sie kaum mehr als<br />
Ratifikationsmaschinen." 621 Nur wenn eine Gesetzesvorlage sich einmal auf<br />
einen für alle verstehbaren Einzelpunkt beschränkt, wie das bei der Debatte um<br />
die Strafbarkeit der Abtreibung der Fall war, sticht das echte Ringen der Abgeordneten<br />
um eine überzeugende Lösung gerade als seltene Ausnahme hervor.<br />
Und wenn dann noch ausnahmsweise der Fraktionszwang fehlt, wird durch<br />
diese Auffälligkeiten nur bestätigt, daß Gesetzgebungsarbeit im Regelfall mit<br />
argumentierender Debatte nichts zu tun hat.<br />
Im gesetzgeberischen Alltag hat der einzelne Abgeordnete nicht viel beizutragen<br />
und muß sich auf Vorgaben seiner Partei oder Vorgaben der Regierung<br />
verlassen. Diesen faktischen Zwängen sollte künftig auch normativ entsprochen<br />
werden, indem die Abgeordneten in größerem Maße als bisher von den Aufgaben<br />
einer routinemäßigen Gesetzgebungsmaschinerie entlastet werden. Dafür<br />
sollten sie zu schade sein und sich auf die Entscheidung grundsätzlicher Fragen<br />
619 Forsthoff, Verfassungsgeschichte der Neuzeit, S.171.<br />
620 Roman Herzog, Interview in FOCUS 19/1994 vom 9.5.1994, S.23 (24).<br />
621 Arnim, Ein demokratischer Urknall.