pdf-Version - Klaus Kunze
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fenbar werden lassen. 624 Die vorgeschobenen historischen Gründe aus der Weimarer<br />
Zeit verfangen nicht. Es ist ins Reich der Legende zu verweisen, die<br />
Weimarer Republik sei an zu vielen Plebisziten gescheitert. In Wahrheit hat es<br />
damals keine einzige rechtsgültige erfolgreiche Volksabstimmung gegeben.<br />
Aus alliierter Sicht mag sich auch ein ganzes Volk nicht so einfach manipulieren<br />
und kontrollieren gelassen haben wie eine Schar handverlesener Günstlinge<br />
der Besatzungsmächte. Schon im Vorfeld der Ausarbeitung des Grundgesetzes<br />
hatten diese den Deutschen nämlich keineswegs völlige demokratische<br />
Entscheidungsfreiheit eingeräumt, sondern sich durch Vergabe von Lizenzen an<br />
Presseorgane und Parteien den maßgeblichen Einfluß auf die von ihnen jeweils<br />
gewünschte Richtung deutscher Politik gesichert. Auch nachdem die Landtage<br />
mit Vertretern der von ihnen lizenzierten Parteien besetzt und der Parlamentarische<br />
Rat gebildet war, hatten die Alliierten an den eigenen Vorstellungen der<br />
deutschen Parlamentarier einiges auszusetzen und nahmen durch Anweisungen<br />
direkten Einfluß auf einzelne Regelungen des Grundgesetzes.<br />
Auch im mittleren Teil Deutschlands, der damaligen Sowjetischen Besatzungszone,<br />
legte man aus denselben, naheliegenden Gründen keinerlei Wert auf<br />
völlig freie Wahlen oder gar Volksabstimmungen, die mit einem Fiasko für die<br />
Besatzungsmacht geendet hätten. Die Kollaborateure und Günstlinge der Besatzungsmacht<br />
konnten sich so fest in die Regierungssättel setzen und jede unerwünschte<br />
Konkurrenz verdrängen, daß es in der späteren DDR 40 Jahre lang<br />
dauerte, eine parasitäre Kaste in der Moskauer Emigration geschulter Funktionäre<br />
abzuschütteln. Sie sind durch eine handgreifliche Art von Volksentscheid<br />
weggespült worden, und wer das Selbstbewußtsein der Massen auf jenen Demonstrationen<br />
wie montags in Leipzig selbst erlebt hat, wird den Wert des geschriebenen<br />
Verfassungsparagraphen nie wieder überschätzen.<br />
Auch im wiedervereinigten Deutschland könnten die Lehren der Wendezeit<br />
nutzbringend angewendet werden. Es ist in salbungsvollen Reden der letzten<br />
Jahrzehnte zum Überdruß zu hören gewesen, aus der Geschichte solle man lernen;<br />
und nach dem Sturz des Kommunismus in Mitteldeutschland beschworen<br />
gerade sogenannte Bürgerrechtler gern die Erfahrungen aus der Wendezeit, die<br />
in das vereinte Deutschland eingebracht werden sollten. Wenn hier eine Erfahrung<br />
an erste Stelle zu setzen und auf das ganze Deutschland zu übertragen ist,<br />
dann die: Nie wieder gegen das Volk herrschen! Waren sie nicht alle<br />
"Verfassungsfeinde", die da montags auf die Straße gingen in Leipzig, Dresden,<br />
Berlin und anderswo? Haben sie nicht die geschriebene Verfassung der DDR<br />
624 Otmar Jung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 45/1992, 30.10.1992.