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Steckbrief zur Fahndung nach einem tatverdächtigen ... - Ivitra

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an Gottes Stelle setzenden Autors klar zum Programm erhoben ist, jene<br />

Vorstellung vom allumfassenden Roman, welche die kühnsten Schöpfungen<br />

der Erzählkunst hervorgerufen hat, so ist Tirant lo Blanc noch aktueller im<br />

Hinblick auf seine Konstruktion; denn die Methoden und Verfahren, mit<br />

denen Martorell sein Erzählmaterial organisiert hat, kündigen schon fast die<br />

gesamte Strategie des modernen Romans an.<br />

Die aktiven Krater. Im Unterschied zu dem, was sich in <strong>einem</strong> vollkommen<br />

geglückten Gedicht ereignet – daß nämlich sein emotionaler Gehalt und<br />

seine inneren Spannungen (seine wesensbestimmenden Erlebnisbilder) im<br />

Verlauf des Ganzen, vom Anfang bis zum Ende, gleichmäßig verteilt<br />

erscheinen –, haben die seelischen Strömungen eines Romans (seine<br />

wichtigen Erlebniselemente) einen fluktuierenden, ungleichmäßigen Verlauf,<br />

der bedingt ist durch die unvermeidlichen »toten Momente«, durch<br />

Episoden, die unentbehrlich sind, aber keinen Wert an sich, sondern nur in<br />

bezug auf andere besitzen, weil es ihnen an eigenem Leben mangelt und sie<br />

nur dazu dienen, die wesentlichen Episoden, die das haben, zu erläutern oder<br />

miteinander in Verbindung zu bringen. Die letztgenannten sind sozusagen<br />

die aktiven Krater eines Romans, jene Stellen also, wo eine machtvolle<br />

Konzentration von Erlebniskräften zu registrieren ist. Aus solchen<br />

Eruptionszentren ergießt sich eine Energieflut zu den künftigen und den<br />

vorigen Episoden, durchtränkt mit Lebensglut die Zonen, denen es daran<br />

fehlt, und stärkt den Pulsschlag dort, wo er nur schwächlich pocht. In<br />

k<strong>einem</strong> Roman wird die Erlebnisintensität von der ersten bis <strong>zur</strong> letzten<br />

Seite in stetig sich gleichbleibender Stärke gewahrt: Die Größe einer solchen<br />

Dichtung erweist sich am Vorhandensein einer größeren Anzahl »aktiver<br />

Krater« in der Weite ihres Erzählbereichs oder aber an der Strahlkraft ihrer<br />

Energiezentren.<br />

Episoden <strong>nach</strong> dem Bild und Gleichnis des Romans. In Tirant lo Blanc findet der<br />

grandiose Anspruch des Gesamtentwurfs – sich darzubieten als eine<br />

allumfassende Wirklichkeit eigener Art, welche zugleich die totale Realität<br />

repräsentiert, die sie illusorisch wiedergibt, mit all deren Ungeheuerlichkeiten<br />

und Kleinigkeiten, all deren unterschiedlichen<br />

500<br />

Schichten –, dieser Anspruch des Ganzen also findet seine Replik oder<br />

Entsprechung in den wesentlichen Teilstücken des Buches. Ist der Roman<br />

<strong>nach</strong> dem Bild und Gleichnis der Realität entworfen, so sind seine »aktiven<br />

Krater« <strong>nach</strong> dem Bild und Gleichnis des Romans konzipiert. Sinnbild seiner<br />

Bauweise könnte ein großer Kreis sein, der fortlaufend sich verengende<br />

konzentrische Kreise birgt; auch eine Spirale könnte man vielleicht als Symbol<br />

seines Konstruktionsprinzips verwenden. Jeder »aktive Krater« ist ein<br />

verkleinertes Abbild der Komplexität und Vielfalt des Ganzen, denn jede<br />

wesentliche Episode ist ein mehrschichtiges Phänomen, das als Fragment einer<br />

totalen Wirklichkeit fungiert und all deren Widersprüche, Vieldeutigkeiten und<br />

verschiedenen Ebenen ebenso wirkungsvoll darstellt wie das Gesamtwerk die<br />

totale Realität. In zwei dieser wesentlichen Episoden von Tirant lo Blanc kann<br />

man das Funktionieren jener technischen Verfahrensweisen Martorells<br />

beobachten, die mir als entscheidende Faktoren in s<strong>einem</strong> Roman erscheinen;<br />

ich meine die Darstellung des Erscheinens von Karmesina und der<br />

aufflammenden Verliebtheit von Tirant sowie die Schilderung der lautlosen<br />

Doppelhochzeit. Diese zwei Episoden sind natürlich nicht die einzigen aktiven<br />

Krater des Buches, aber sie sind so aufschlußreich, daß wir in ihnen genug Indizien<br />

erhalten, aus denen zu ersehen ist, welcher Mechanismus das Ganze<br />

bewegt und in Gang hält; denn in beiden wirken jene Verfahren höchst<br />

effektiv, und augenfälliger als sonstwo zeigt sich bei ihnen, mit welcher<br />

Sicherheit, mit welch scharfsinnigem Feingefühl und mit wieviel sachkundiger<br />

Geschicklichkeit Martorell sein Erzähl-material so organisiert, daß daraus<br />

Leben entspringt. In diesem Sinne haben die zwei genannten Episoden einen<br />

exemplarischen Wert, der sie hervorhebt gegenüber den anderen. Es scheint<br />

mir geboten, hier beiläufig darauf hinzuweisen, daß die realiter im Roman<br />

gebotene Verteilung von wesentlichen Episoden und bloßen Verbindungsstücken,<br />

von aktiven Kratern und toten Momenten, nicht der Einteilung in<br />

Kapitel entspricht, mit der er veröffentlicht worden ist. War es Martorell, der<br />

dem Buch diese willkürlichen, wunderlichen und manchmal aberwitzigen<br />

Kapitelzäsuren verordnete? War es Martí de Galba oder der als Verleger<br />

amtierende Drucker?

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