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Steckbrief zur Fahndung nach einem tatverdächtigen ... - Ivitra

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sieht er »hundertsiebzig Frauen und Jungfrauen« stehen. Die präzise<br />

Zahlangabe ist nicht nur ein Hinweis auf die Fähigkeit Tirants, mit <strong>einem</strong><br />

einzigen flüchtigen Blick genauestens abschätzen zu können, aus wieviel<br />

Personen eine Menschenmenge besteht; die numerische Exaktheit<br />

unterstreicht vor allem den Willen <strong>zur</strong> Objektivität, der in diesem Moment<br />

die Worte des Erzählers bestimmt. Der Leser erfährt nur, was in dem<br />

Gemach zu hören und zu sehen ist, nichts weiter; er weiß nicht, welche<br />

Gedanken und Gefühle die von Tirant wahrgenommenen Bilder und Laute<br />

in dessen Inneren erwecken. In diesem Moment (und in allen Momenten, wo<br />

die Erzählung auf die objektive Ebene überwechselt) ist der Roman eine<br />

kompakte sinnliche Wirklichkeit, eine konkrete Welt, zusammengefügt aus<br />

Gegenständen und Wesen, die nichts anderes sind als Form, Farbe, Geste,<br />

Format. Dann entfernt sich die Achse der Erzählung von Tirant, und der<br />

Leser sieht, von weitem, daß der Ritter der Infantin durch eine Verneigung<br />

seine Ehrerbietung erweist, ihr die Hand küßt, die Fenster des Gemaches<br />

öffnet. Und in diesem Augenblick wechselt die Erzählung plötzlich die<br />

Ebenen, der Leser stürzt durch die Oberfläche, die bis dahin die Welt war, in<br />

eine Dimension der Intimität, in eine Wirklichkeit, die nicht aus Fakten<br />

besteht, sondern aus Empfindungen, Gefühlen und Erregungen.<br />

c) Eine subjektive Ebene. Als die Fenster aufgehen, ist all den Damen zumute,<br />

»als wären sie einer langen Gefangenschaft entronnen: denn seit vielen Tagen<br />

schon hatten sie in völliger Finsternis den Tod des Kaisersohnes betrauert«.<br />

Ein Satz, aufzuckend wie ein Pulverblitz, hat jählings einen Qualitätswandel<br />

in der Realität bewirkt, diese hat ihre Natur verändert, ist sprungartig in eine<br />

bis dahin verborgene Dimension gelangt. Aber unmittelbar <strong>nach</strong> diesem Satz<br />

kehrt die Erzählung <strong>zur</strong>ück <strong>zur</strong> rhetorischen Ebene, in <strong>einem</strong> neuen Sprung<br />

oder Umbruch, und der Leser vernimmt, wie Tirant, verwandelt in die Stimme<br />

einer Unperson, den Kummer des Volkes bedenkt und der kaiserlichen<br />

Familie rät, die Trauerzeremonien zu beenden, worauf die Stimme für ein paar<br />

Sekunden übergeht auf den Kaiser und aus dessen Mund verlautbart, daß der<br />

Herrscher diesen Ratschlag gutheißt. Da<strong>nach</strong> findet noch mal ein Sprung<br />

oder Umbruch statt, die Erzählung vertauscht erneut die Ebenen, kehrt<br />

<strong>zur</strong>ück zu jener sub-<br />

506<br />

jektiven Dimension, die kurz in Erscheinung getreten und sogleich wieder<br />

entschwunden war, nun aber aufs neue zum Vorschein kommt: »Während<br />

der Kaiser mit diesen oder ähnlichen Worten seine Zustimmung äußerte,<br />

achteten die Ohren Tirants auf dessen Rede, seine Augen jedoch widmeten<br />

sich der Betrachtung von Karmesinas großer Schönheit.« Als er das Gemach<br />

betrat, war Tirant eine untrennbare Einheit von Gehör und Blick gewesen,<br />

da<strong>nach</strong> eine Stimme, deren Klang sich mit den konventionellen Tönen seiner<br />

Zeit vermischte, nun aber ist er zweierlei verschiedene Dinge zu gleicher<br />

Zeit: ein Ohr, das auf den Kaiser achtet, ein Augenpaar, das <strong>nach</strong> der<br />

Infantin späht. Ein Zwiespalt ist entstanden, ein Riß, der ihn mit sich selbst<br />

entzweit; und der Bruch, der mitten durch ihn hindurchgeht, sein Wesen<br />

spaltet, das bis zu diesem Augenblick nur physische Gegenwart war, Faktum<br />

von Sinnesorganen, Vehikel für die Stimme, weil es nur auf den Ebenen der<br />

Rhetorik und der Objektivität präsentiert worden war – diese<br />

Wesensspaltung also ist es, was den Leser eindringen läßt in die Innenwelt<br />

des Ritters, wo er allmählich entdeckt, was dessen Gemüt bewegt. Ohren, die<br />

auf den Kaiser horchen, Augen, die an den nackten Brüsten Karmesinas<br />

hängen – Tirant ist zwiefach da, als zwei Personen: eine für den Kaiser, eine<br />

andere für den Leser. Bis dahin war das, was Tirant tat, hörte, sah und sagte,<br />

vom Leser wahrgenommen worden, auch vom Kaiser und den übrigen<br />

Leuten, die sich in dem besagten Raum des Herrscherpalastes befinden. Von<br />

nun an ist alles ganz anders: In Tirant ereignet sich etwas, das für alle<br />

Anwesenden verborgen bleibt; etwas, an dem nur der privilegierte Leser<br />

teilnimmt; etwas, das man weder hören noch sehen kann; das einer<br />

ungreifbaren Schicht der Wirklichkeit angehört: Das, was Tirant fühlt. Die<br />

Subjektivität hat sich in dieser Welt eingenistet, die Realität ist gewachsen.<br />

Die Menschen sind nun nicht mehr nur Tat, Sinneswahrnehmung und<br />

Bauchrednerei; jetzt sind sie auch der Ort geheimnisvoller Vorgänge, von<br />

denen sie niedergedrückt oder erhoben werden, Opfer unkontrollierbarer<br />

Kräfte, die bewirken, daß sie Lust empfinden oder leiden. Subjektive<br />

Vorgänge, die man nur auf subjektive Weise ausdrücken kann: Die Brüste<br />

Karmesinas sind »zwei Paradiesäpfel, glänzend, als wären sie aus Kristall;<br />

und ihre schimmernde Klarheit lud die Augen des Bretonen ein, sich hinein-

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