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Steckbrief zur Fahndung nach einem tatverdächtigen ... - Ivitra

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Als es dann an der Zeit war, daß der Kaiser zum Abendessen gehen würde,<br />

versäumte Tirant es nicht, ganz allein mit eiligen Schritten zum Palast zu<br />

gehen; und auf der Treppe traf er dort Wonnemeineslebens, die eben<br />

herunterkam, um die Unterkunft Tirants aufzusuchen. Diese Begegnung auf<br />

halbem Weg gab ihr Gelegenheit, ihm rasch zu schildern, wie das Vorhaben<br />

auszuführen sei und zu welchem Zeitpunkt er erscheinen solle. Beide<br />

machten kehrt, und ein jeder ging den Weg <strong>zur</strong>ück, den er gekommen war.<br />

Als endlich im Palast jedermann sich <strong>zur</strong> Nachtruhe <strong>zur</strong>ückgezogen hatte und<br />

alle im ersten Schlaf lagen, erhob sich die Prinzessin von ihrem Lager.<br />

Niemand war bei ihr, niemand außer Wonnemeineslebens und einer anderen<br />

Zofe, die in alles eingeweiht war und bei Hofe einfach ›die Jungfrau von<br />

Montblanc‹ hieß. Die Prinzessin hüllte sich in Gewänder, die der Kaiser ihr<br />

hatte anfertigen lassen für den Tag, an dem sie Hochzeit feiern würde –<br />

Gewänder, die sie noch nie getragen und die noch niemand zu Gesicht<br />

bekommen hatte. Es waren die prächtigsten Kleidungsstücke, die man damals<br />

sich ausmalen mochte. Die Robe war aus karmesinrotem Satin, über und<br />

über mit Perlen bestickt, mit nichts sonst geschmückt, allein mit dem Inhalt<br />

von zwei Scheffeln voller Perlen, die auf die Robe und den Rock darunter<br />

verteilt waren. Gefüttert und gesäumt war diese Brautkleidung mit Hermelin.<br />

Und auf ihren Kopf setzte Karmesina die Krone des Kaiserreiches, die als<br />

überaus kostbar galt. Schön frisiert und ordentlich herausgeputzt, wirkte sie<br />

höchst würdevoll. Wonnemeineslebens und die Jungfrau von Montblanc<br />

nahmen je eine brennende Fackel in die Hand und harrten so der Ankunft<br />

Tirants.<br />

Dieser begab sich, sobald er hörte, daß es elf schlug – denn das war der<br />

vereinbarte Zeitpunkt, den er sehnlichst erwartet hatte –, mit eiligen Schritten<br />

<strong>zur</strong> Gartenpforte, stieg die Treppe empor, die zum Hinterkämmerchen der<br />

Prinzessin führte, und begegnete auf den Stufen der fackeltragenden Jungfrau<br />

von Montblanc. Als diese den Bretonen erblickte, machte sie ehrerbietig<br />

einen tiefen Knicks und begrüßte ihn mit den Worten:<br />

»Der beste aller guten Ritter und glücklichste Favorit einer schönen Dame,<br />

der auf Erden zu finden ist!«<br />

Und Tirant gab <strong>zur</strong> Antwort:<br />

298<br />

»Geb’s Gott, Jungfrau, daß Eure Wünsche in Erfüllung gehen!«<br />

Zu zweit stiegen sie vollends hinauf zum Frisierkabinett und warteten dort,<br />

bis Wonnemeineslebens erschien, vergnügter und zufriedener, als weiland<br />

Paris gewesen, wie er Helena entführte. Gemeinsam gingen die dreie in ein<br />

Gemach, und im selben Augenblick kam die Prinzessin aus <strong>einem</strong> anderen<br />

Zimmer in ebendiesen Raum. Groß war die Freude bei dieser Begegnung der<br />

beiden Liebenden, und sie empfingen einander, indem zuerst Tirant auf die<br />

Knie fiel, worauf seine Dame desgleichen tat. Nachdem sie eine gute Weile in<br />

solcher Demutshaltung sich gegenseitig Ehrfurcht erzeigt hatten, küßten sie<br />

kniend einander, und der Kuß war so köstlich, daß man eine Fußwanderung<br />

von einer Meile hätte hinter sich bringen können, ehe der eine Mund sich<br />

vom anderen trennen mochte. Wonnemeineslebens, die erkannte, wie gefährlich<br />

lang das dauern konnte, näherte sich den beiden und sagte:<br />

»Ich sehe, ihr seid wahre und gute Liebende. Aber ich möchte diesen<br />

Zweikampf unterbrechen. Wartet damit, bis ihr im Bett liegt. Und ich werde<br />

Euch, Tirant, nicht als Ritter anerkennen, wenn Ihr Frieden macht, bevor<br />

Blut fließt.«<br />

Da kamen die beiden wieder auf die Beine, und die Prinzessin nahm ihre<br />

Krone ab und setzte sie aufs Haupt des Kapitans Tirant. Dann kniete sie<br />

wiederum nieder auf den harten Boden und hob an, die folgenden Worte zu<br />

sprechen.<br />

KAPITEL CCLXXVIII<br />

Das Gebet, mit dem sich die Prinzessin als Fürbitterin Tirants an Gott wandte<br />

Herr Jesus Christus, allmächtiger und barmherziger Gott, der du<br />

aus Mitleid mit dem Menschengeschlecht den Himmel verlassen<br />

und auf die Erde herniederkommen wolltest und Fleisch<br />

geworden bist, um menschliche Gestalt anzunehmen im Schoß<br />

der allerheiligsten Jungfrau Maria, unserer Mutter und Herrin,<br />

und bereitwillig es auf dich nahmst, am Holz

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