Stimmengewirr oder Dialog? - Bakom - CH
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Theoretische Verortung der Untersuchung<br />
Im Gegensatz zu früheren Konzeptionen, wie sie Habermas insbesondere mit dem „Strukturwandel<br />
der Öffentlichkeit“ (vgl. Habermas 1990) entwirft, geht er nun nicht mehr von<br />
einer Vorstellung von Öffentlichkeit als fester Struktur der zum Publikum versammelten<br />
Privatleute aus, die durch den wachsenden Kulturkonsum ihre politische Funktion weitgehend<br />
eingebüsst hat. Öffentlichkeit wird nun selbst als Resultat eines politischen Prozesses<br />
gedacht, der die zivilgesellschaftliche Peripherie mit dem politisch-administrativen Zentrum<br />
in Beziehung setzt. Dies ist eine weitaus differenziertere und dynamischere Sichtweise,<br />
die sich deutlich vom „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ abgrenzt. Dort hiess es nämlich<br />
noch im eher pessimistischen Tonfall der kritischen Theorie der 1960er Jahre: „Der<br />
Prozess des politisch relevanten Machtvollzugs und Machtausgleichs spielt sich direkt zwischen<br />
den privaten Verwaltungen, den Verbänden, den Parteien und der öffentlichen Verwaltung<br />
ab; das Publikum als solches wird in diesen Kreislauf der Macht sporadisch und<br />
auch dann nur zu Zwecken der Akklamation einbezogen“ (Habermas 1990: 268-269).<br />
Wenn das Publikum aber mehr als nur Zulieferer von Zustimmung sein soll – und sein<br />
kann, d.h. wenn es eine echte Chance auf Einfluss haben soll, dann reicht eine solche starre<br />
Konzeption von Politik und Öffentlichkeit nicht aus. Das deliberative Modell unterscheidet<br />
sich denn auch vor allem in seiner Auffassung von politischer Öffentlichkeit als einem<br />
dynamischen, komplexen gesamtgesellschaftlichen Prozess. Gleichzeitig wird in der deliberativen<br />
Konzeption auch deutlich, dass politische Macht immer einem öffentlichen<br />
Rechtfertigungszwang unterworfen ist – auch und insbesondere im Fall eines eher „akklamatorischen“<br />
Kreislaufs (s.u.).<br />
Schematisch lässt sich der politische Prozess in mehrere Etappen unterteilen: AkteurInnen<br />
der zivilgesellschaftlichen Peripherie wie bspw. lokal institutionalisierte Bürgervereinigungen<br />
verfügen wegen ihrer stärkeren Verankerung in der Lebenswelt über sensiblere<br />
„Antennen“, was gesellschaftliche Probleme anbelangt. Diese nur lose organisierten Vereinigungen<br />
statten zunächst problembezogene Themen mit Beiträgen und Meinungen aus<br />
und dramatisieren sie etwa anhand konkreter Einzelschicksale so, dass sie von kleineren<br />
Teilöffentlichkeiten in grössere gelangen. Dort werden sie von den Massenmedien aufgenommen<br />
und ins politisch-administrative Zentrum getragen. Im Zentrum zwingen der publizistische<br />
Einfluss bzw. die kommunikative Macht den Apparat aus Regierung, Parlament<br />
und Verwaltung von seinem Routinekreislauf auf einen „aussergewöhnlichen“ Problemverarbeitungsmodus<br />
umzustellen, d.h. die artikulierten Probleme aufzunehmen und Lösungen<br />
zu formulieren. Schliesslich werden die erarbeiteten Lösungen via zentrumsnahe Behörden,<br />
Verbände, die Medien usw. wieder an die Peripherie rückgekoppelt. Eine so gedachte<br />
politische Öffentlichkeit, die demokratische Politik als einen gesamtgesellschaftlichen<br />
Prozess entwirft, beschreibt das Ideal eines Machtkreislaufes, der die Peripherie mit<br />
dem Zentrum über verschiedene Kommunikationskanäle und -schleusen als einem komplexen<br />
Netzwerk verbindet (vgl. Habermas 1992: 399 ff.).<br />
Wenn wir diesen idealen Typus der politischen Öffentlichkeit unter dem Eindruck der<br />
grösseren politischen Debatten der letzten Jahre und Jahrzehnte betrachten, so wird zwar<br />
klar, dass die zivilgesellschaftliche Peripherie durchwegs an politischem – d.h. kommunikativem<br />
– Gewicht gewonnen hat. Dennoch ist die Form deliberativer Öffentlichkeit, wie<br />
sie von Habermas skizziert wird, eher die Ausnahme als die Regel. 15 Unabhängig davon<br />
15 Dennoch, so Habermas, gibt es solche Ausnahmen durchaus und die zivilgesellschaftlichen AkteurInnen<br />
können „unter Bedingungen einer wahrgenommenen Krisensituation eine überraschend aktive und folgenreiche<br />
Rolle spielen“ (1992: 460).<br />
Ergänzend ist hier zudem anzumerken, dass Habermas offensichtlich eher an rein repräsentative Formen der<br />
Demokratie denkt, die den BürgerInnen lediglich bei Wahlen der Legislative und der Exekutive die Möglichkeit<br />
der Teilnahme am politischen Prozess zusichern. In der Schweiz stellt sich die Situation durch die direktdemokratischen<br />
Verfahren der Initiative bzw. des obligatorischen und fakultativen Referendums freilich<br />
anders dar. Und auch wenn nicht alle Abstimmungsvorlagen aus der Zivilgesellschaft selbst heraus entstehen,<br />
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