Stimmengewirr oder Dialog? - Bakom - CH
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Reziprozität <strong>oder</strong> ob die AkteurInnen wirklich miteinander sprechen<br />
6 Reziprozität <strong>oder</strong> ob die AkteurInnen wirklich miteinander<br />
sprechen<br />
Im vorangehenden Kapitel wurde betrachtet, wer in der medialen Öffentlichkeit kommuniziert.<br />
In diesem Kapitel richtet sich der Blick auf die Frage, wie die Kommunikation gestaltet<br />
wird. Das diskursive Modell beschreibt in erster Linie die Verfahrenskriterien, d.h.<br />
auf welche Art und Weise diskutiert werden sollte und bezieht sich weniger auf die Inhalte<br />
der Debatte.<br />
Der Diskurs ist eine ganz bestimmte Form <strong>oder</strong> Ebene des Gesprächs, auf das die TeilnehmerInnen<br />
wechseln, wenn der reguläre Kommunikationsverlauf gestört ist, d.h. wenn<br />
die erhobenen Geltungsansprüche angezweifelt <strong>oder</strong> hinterfragt werden. Im Kern geht es<br />
dabei darum, die dem erhobenen Geltungsanspruch zugrunde liegenden guten Gründe, die<br />
seine Gültigkeit ja garantieren sollten, zu explizieren, d.h. die Gültigkeit des Geltungsanspruchs<br />
qua Argumentation zu untermauern. Eigentliches Ziel des Diskurses ist es dann,<br />
dass SprecherIn und HörerIn 113 über eine argumentative Auseinandersetzung hinsichtlich<br />
des problematisierten Geltungsanspruchs zu einem Konsens gelangen und so wieder auf<br />
die Ebene des kommunikativen Handelns wechseln können (vgl. Habermas 1981). Im Idealfall<br />
ist der/die SprecherIn bereit, eine Aussage mit Argumenten zu begründen bzw. zu<br />
verteidigen. Geschieht dies nicht, so verläuft der Diskurs nicht rational und ist für die politische<br />
Meinungsbildung nicht förderlich, da die Sichtweise anderer nur bedingt nachvollzogen<br />
werden kann. Wird eine Aussage von anderen Gesprächsteilnehmenden kritisiert,<br />
angezweifelt, bestritten <strong>oder</strong> modifiziert, sollte dies ebenfalls unter Nennung von Gründen<br />
geschehen. 114 Nur so entwickelt sich ein Diskurs mit deliberativer Qualität, in Folge dessen<br />
ein Konsens bzw. eine begründete Mehrheitsentscheidung entstehen können (vgl. dazu<br />
Gerhards et al. 1998: 36).<br />
Zwei wichtige Merkmale von idealen Diskursen sind demnach die wechselseitige Bezugnahme<br />
der Beiträge aufeinander und ihr antithetischer bzw. begründeter Charakter – mit<br />
anderen Worten: Theoretisch wird das Für und Wider solange abgewogen, bis sich alle<br />
DiskursteilnehmerInnen auf das beste Argument geeinigt haben. Solange sich die Teilnehmenden<br />
nicht aufeinander beziehen, beschränkt sich die Kommunikation hingegen auf<br />
das Postulieren verschiedener Meinungen ohne dass ein Austausch über die Plausibilität<br />
der Argumentation erfolgt.<br />
In diesem Kapitel interessiert zunächst einmal die Struktur der öffentlichen Kommunikation.<br />
Es geht also um die Frage, ob sich die AkteurInnen der Medienarena aufeinander beziehen,<br />
ob das Spiel von Rede und Gegenrede tatsächlich stattfindet <strong>oder</strong> ob die mediale<br />
Plattform lediglich zur „Parolenabgabe“ genutzt wird. Sind die TeilnehmerInnen von Interview-<br />
und Diskussionssendungen bzw. Online-Foren überhaupt an einem Meinungsaustausch<br />
interessiert <strong>oder</strong> nur an der eigenen Meinungsabgabe und der Verlautbarung ihrer<br />
Position? 115 Damit sich ein/e DiskursteilnehmerIn überhaupt auf andere AkteurInnen beziehen<br />
kann, muss er/sie zunächst einmal das Rederecht erhalten. Deshalb wird im ersten<br />
113 Ist in dieser Untersuchung von SprecherIn und HörerIn die Rede sind sowohl die Diskutierenden in Radio<br />
und Fernsehen als auch die Diskursteilnehmenden von Online-Foren gemeint.<br />
114 Vgl. dazu Kapitel 7.2.<br />
115 Vgl. Neidhart (1994), der drei Idealtypen von öffentlichen Kommunikationsmuster ausmacht: 1) Das<br />
„Verlautbarungsmodell“, in dem die AkteurInnen lediglich monologartig ihre Statements abliefern, ohne sich<br />
mit dem Gegenüber auseinanderzusetzen, 2) das „Agitationsmodell“, das sich insbesondere durch gegenseitige<br />
Angriffe und mehr <strong>oder</strong> minder offene Diskreditierung konkurrierender Positionen und Personen auszeichnet,<br />
und 3) schliesslich das an Habermas angelehnte „Diskursmodell“, das die argumentative Auseinandersetzung<br />
mit der eigenen Position und derjenigen des Gegenübers beschreibt (vgl. Neidhart 1994; vgl. auch<br />
Habermas‘ Unterscheidung zwischen „manipulativer“ und „demonstrativer“ Öffentlichkeit im „Struktkurwandel<br />
der Öffentlichkeit“ 1990).<br />
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