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Bericht über die menschliche Entwicklung 2006 - Human ...

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Kasten 1.1<br />

Ein großer Sprung nach vorn – von der Wasserreform zur Reform der Sanitärversorgung<br />

im Großbritannien des 19. Jahrhunderts (Fortsetzung)<br />

1<br />

der Missstände auf lokaler Ebene, entwickelte sich ein zunehmender<br />

Handlungsdruck, <strong>die</strong> Problematik anzugehen.<br />

Die Daten in Bezug auf <strong>die</strong> Lebenserwartung und Kindersterblichkeit<br />

verdeutlichen das Problem (siehe Grafik 1). In den Jahren<br />

nach 1840 erhöhte sich <strong>die</strong> Lebenserwartung nicht zuletzt aufgrund<br />

der ersten Reformwelle im Bereich der Wasserversorgung. Dieser<br />

Trend riss jedoch Ende der 1870er Jahre abrupt ab. Erst in den<br />

frühen Jahren nach 1880, als <strong>die</strong> Reform im Sanitärbereich ins Spiel<br />

kam, setzte sich der Aufwärtstrend fort. Dies spiegelte sich in einer<br />

enormen Abnahme der Kindersterblichkeit wieder. Die positiven<br />

<strong>Entwicklung</strong>en sind allerdings nicht allein auf <strong>die</strong> Reform im Sanitärbereich<br />

zurückzuführen, auch wenn der Höchststand der getätigten<br />

Investitionen im Bereich der Abwasserentsorgung zufällig mit dem<br />

Beginn der allgemeinen Abnahme der Kindersterblichkeit zeitlich aufeinander<br />

fällt und dadurch eine kausale Verbindung suggeriert wird.<br />

In den folgenden (etwas mehr als zehn) Jahren bis 1900 fiel <strong>die</strong><br />

Sterblichkeitsrate bei Säuglingen von 160 auf 100 Todesfälle pro<br />

1000 Lebendgeburten – und stellt damit einen der drastischsten<br />

Rückgänge in der Geschichte dar. Katalysator <strong>die</strong>ser <strong>Entwicklung</strong><br />

waren <strong>die</strong> öffentlichen Investitionen im Bereich der Abwasserentsorgung<br />

und nicht etwa das zunehmend steigende Privateinkommen.<br />

Zwischen 1900 und 1912 erhöhte sich das durchschnittliche Einkommen<br />

lediglich um sechs Prozent.<br />

Neue Finanzierungsansätze spielten während der zweiten<br />

Reformwelle eine wesentliche Rolle. Die zunehmende Forderung<br />

nach öffentlichem Handeln brachte <strong>die</strong> Suche nach neuen Finanzmechanismen<br />

auf den Weg, um dem Dilemma, welches auch heute noch<br />

in den <strong>Entwicklung</strong>sländern bekannt ist, angehen zu können: Wie<br />

können hohe Vorauszahlungen von einer begrenzten Ertragsbasis<br />

finanziert werden, ohne dabei Steuern oder Kosten auf politisch<br />

unrealistische Summen zu erhöhen. Die Regierungen entwickelten<br />

innovative Lösungen. Die Städte ergänzten <strong>die</strong> niedrigverzinslichen<br />

Darlehen der Zentralregierung mit der kommunalen Kreditaufnahme<br />

auf den Anleihenmärkten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren<br />

ein Viertel der lokalen Regierungsschulden auf <strong>die</strong> Reformen in den<br />

Bereichen der Wasserver- und Abwasserentsorgung zurückzuführen.<br />

Diese enorme Mobilisierung öffentlicher Finanzmittel reflektiert<br />

den sich ändernden politischen Stellenwert der Wasser- und Sanitärversorgung.<br />

Die Reform im Sanitärbereich wurde zu einem Sammelplatz<br />

für Sozialreformer, Kommunalführer und von öffentlichen<br />

Gesundheitsorganen, <strong>die</strong> zunehmend <strong>die</strong> unangemessene Abwasserentsorgung<br />

als Hemmnis nicht nur des <strong>menschliche</strong>n Fortschritts<br />

sondern auch eines wirtschaftlichen Aufschwungs sahen. Die öffentliche<br />

Stimme der Zivilgesellschaft spielte eine Schlüsselrolle, um <strong>die</strong><br />

Reform im Sanitärbereich voranzubringen. Somit konnten Fortschritte<br />

im öffentlichen Gesundheitssektor erzielt werden.<br />

Warum aber kam es zu <strong>die</strong>ser Zeitspanne zwischen den beiden<br />

großen Reformwellen? Unter den wichtigsten Koalitionspartnern<br />

während der ersten Reformwelle waren <strong>die</strong> Industriellen, <strong>die</strong> zwar<br />

Wasser für ihre Fabriken benötigten, aber keineswegs bereit waren,<br />

höhere Steuern für <strong>die</strong> Erweiterung der Sanitäranlagen zur Nutzung<br />

für <strong>die</strong> Armen zu zahlen. Die politisch einflussreichen Segmente der<br />

Gesellschaft waren also weiterhin eher daran interessiert, sich mit<br />

den beschämenden Auswirkungen der schlechten Abwasserentsorgung<br />

in den Elendsvierteln zu begnügen, als sich mit einer universellen<br />

Grundversorgung zu beschäftigen. Erst mit der Reform des Wahlsystems<br />

und der Ausweitung des Wahlrechts, wurde <strong>die</strong> Stimme der<br />

Armen zu einem entscheidenden Faktor.<br />

Dies ist <strong>die</strong> Geschichte Großbritanniens im 19. Jahrhundert und<br />

nicht <strong>die</strong> Geschichte der <strong>Entwicklung</strong>sländer des 21. Jahrhunderts.<br />

Gleichwohl liefert sie zwei deutliche Parallelen: Zum einen zeigt sie auf,<br />

in welcher Weise <strong>die</strong> Wasserver- und Abwasserentsorgung den sozialen<br />

Fortschritt aufhalten kann, zum anderen, wie durch Koalitionen zur<br />

Umsetzung sozialer Reformen Veränderungen erwirkt werden können.<br />

Die Krise der Wasser- und Sanitärversorgung beenden<br />

Quelle: Bell und Millward 1998; Szreter 1997; Hassan 1985; Woods, Watterson und Woodward 1988; Woods, Watterson und Woodward 1989; Bryer <strong>2006</strong>.<br />

pro 1.000 Lebendgeburten, mehr als Hälfte <strong>die</strong>ser<br />

Todesfälle war auf Durchfallerkrankungen<br />

und Ruhr zurückzuführen. 4 Die hohe Kindersterblichkeit<br />

bremste <strong>die</strong> Zunahme der Lebenserwartung.<br />

Bis zum letzten Viertel des 19. Jahrhunderts<br />

stieg <strong>die</strong> Lebenserwartung in der<br />

industrialisierten Welt kaum. Die Menschen<br />

wurden wohlhabender, aber nicht gesünder. 5<br />

Warum gab es inmitten des Wohlstands,<br />

der sich infolge der Industrialisierung ausbreitete,<br />

keine Fortschritte bei der Lebenserwartung<br />

und der Zahl der <strong>über</strong>lebenden Kinder<br />

– zwei der wesentlichsten Indikatoren für <strong>die</strong><br />

Situation der Menschen? Zum Teil, weil <strong>die</strong><br />

Industrialisierung und Urbanisierung arme<br />

Migranten vom Lande in <strong>die</strong> städtischen Slums<br />

zogen, wo es an Wasser- und Sanitärinfrastruktur<br />

fehlte – ein Szenario, wie es sich heute in<br />

vielen der ärmsten Länder der Welt darstellt.<br />

Die Städte boten zwar Arbeitsplätze und höhere<br />

Einkommen, doch sie setzten <strong>die</strong> Menschen<br />

auch verstärkt tödlichen Krankheitserregern<br />

aus, <strong>die</strong> durch <strong>über</strong>laufende Senkgruben,<br />

Abwasser- und Entwässerungskanäle <strong>über</strong>tragen<br />

wurden. 6<br />

Fast jede Großstadt stand vor dem gleichen<br />

Problem. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde<br />

in einem <strong>Bericht</strong> <strong>über</strong> <strong>die</strong> öffentliche<br />

Gesundheit in Paris beklagt, dass <strong>die</strong> ärmeren<br />

Stadtviertel zu einer „offenen Kloake“ gewor-<br />

BERICHT ÜBER DIE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG <strong>2006</strong> 39

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