Leadership-Interview-Transkript - Sozialpsychologie - Goethe ...
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Rolf van Dick: Ich komm zu meiner letzten Frage. Da geht es um das Thema der Werte in<br />
unserer Gesellschaft. Was bedeuten Werte aus Ihrer Perspektive und wie wichtig sind die?<br />
Brauchen wir sie und was ist das?<br />
Sahra Wagenknecht: Also ich würde mir schon wünschen, dass es gesellschaftlich geächtet<br />
wäre, wenn Leute sich gegenüber fundamentalen oder humanistischen Werten ignorant<br />
verhalten. Das ist ja nun aber gar nicht der Fall, sondern es ist ja im Gegenteil so, dass zwar<br />
jeder sagt, dass Gier und Egoismus nicht schön sind, aber irgendwie ein gewisser Respekt<br />
gezollt wird, wenn jemand – auch wenn es auf unehrenhafte Art und Weise geschehen istreich<br />
geworden ist. Das ist ja eben leider in dieser heutigen Gesellschaft etwas, das ja auch oft<br />
schon Kindern und Jugendlichen vermittelt wird: Man muss erst mal selber durchkommen.<br />
Auch der Wert Solidarität, oder kirchlich „Nächstenliebe“, dass man sich um das kümmert,<br />
was den anderen Menschen betrifft, das ist ja nicht ein Wert, der sehr stark gelebt und<br />
vermittelt wird, sondern eher so betrachtet wird, dass das ja dann die Gutmenschen sind, und<br />
verächtlich gemacht wird. Und ich glaube, dass eine Gesellschaft Werte und auch die<br />
Achtung von Werten braucht, aber ich habe nicht die Illusion, dass man diese wirtschaftlichen<br />
Funktionsmechanismen dadurch verändert, dass man stärker Moral verankert, sondern<br />
umgekehrt: Man braucht eine Wirtschaft, in der es gar nicht mehr möglich ist, sich persönlich<br />
in dieser Weise zu lasten seiner Mitmenschen zu bereichern. Und erst dann besteht auch eine<br />
Chance, dass sich auch andere Werte wieder durchsetzen.<br />
Rolf van Dick: Den einzigen Wert, den Sie jetzt benannt haben und den ich auch heraushöre,<br />
das ist Nächstenliebe.<br />
Sahra Wagenknecht: Nein, es gibt ja sogar selbst solche klassischen Werte, wie Ehrlichkeit!<br />
Dass ich nicht betrüge, dass ich keine schrägen Geschäfte mache, dass ich nicht meine<br />
Ellenbogen einsetze, vor allem nicht gegenüber Schwächeren und dass ich eben auch nicht zu<br />
Lasten anderer meinen Fortschritt, meine Karriere und mein Einkommen maximiere. Das sind<br />
ja alles ganz wichtige Dinge. Für mich ist Wert überhaupt, dass man sich verantwortlich dafür<br />
fühlt, in welcher Gesellschaft man lebt. Also das ist nicht nur Nächstenliebe, sondern -das ist<br />
ja zum Beispiel auch egal, welche Funktion und welchen Beruf man hat, da muss man auch<br />
nicht Politiker sein- dass man, wenn man sieht, dass sich die Gesellschaft in einer bestimmten<br />
Weise entwickelt, dass sie für viele Menschen nachteilig ist, dass man sich aufgerufen fühlt,<br />
sich zu engagieren um das zu verändern. Und das ist ja auch etwas, das eigentlich ziemlich<br />
weg ist. Man sagt immer, dass jeder gucken soll, wie er privat glücklich wird. „Der eine<br />
schafft’s, der andere nicht- das ist schon immer so gewesen.“, so ungefähr. Das finde ich<br />
absolut ignorant.<br />
Rolf van Dick: Vielleicht als Schlusswort: Sind Sie denn eher pessimistisch, dass das noch<br />
eine Zeit lang so weiter geht und immer schlimmer wird oder sind Sie Optimistin und<br />
denken, das kann sich ändern und wird sich auch wieder ändern?<br />
Sahra Wagenknecht: Also ich sehe ja einfach, dass wir eine Entwicklung haben, die ja doch<br />
deutlich zum Nachteil der großen Mehrheit in Europa und auch Deutschland ist und meine<br />
Hoffnung und mein Wunsch sind natürlich, dass sich diese Mehrheiten, dass irgendwann<br />
nicht mehr gefallen lassen und sich irgendwo engagieren und das sie sich für andere<br />
gesellschaftliche Verhältnisse einsetzen, in denen der Reichtum am Ende auch wieder viel<br />
gleichmäßiger verteilt wird, wo es wesentlich mehr Gerechtigkeit und wesentlich mehr<br />
Aufstiegschancen für jeden eben gibt und wo es nicht diese unglaubliche Kluft zwischen<br />
denen, die mit dem goldenen Löffel im Mund geboren werden, weil sie aus irgendeiner