Band 4 - m-presse
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210 Viertes Buch. Fünfter Abschnitt<br />
das Unheilige Lachen Voltaires heran; Stirner, der sprachkritisch mit<br />
Hegel fertig geworden ist, also mit jeder philosophisch artikulirten Sprache,<br />
Stirner der Einzige hat uns, vierzig Jahre vor Nietzsche, das heilige Lachen<br />
Zarathustras gelehrt: das Lachen über Gott, die Welt und uns.<br />
Stirner Kein gerader Weg führt von den Kritikern der Bibel und der Theologie,<br />
den Strauß, Feuerbach und Bauer, zu Nietzsche, dem Kritiker der Moral.<br />
Ein Umweg führt über den "Egoisten" Max Stirner. Natürlich nenne ich<br />
ihn nicht den Egoisten, weil ich ihn um einer selbstsüchtigen Lebensweise<br />
willen tadeln möchte, oder weil er — was ebenso falsch wäre — den Egoismus<br />
gepredigt hätte; nur well das Wesen seiner fast einzigen Schrift "Der<br />
Einzige und sein Eigentum" mir so am einfachsten ausgedrückt scheint.<br />
So weit Stirner sehnsüchtig forschend umherblickt, in der Welt der Wirklichkeiten<br />
und in der Welt der Ideen, er findet nichts als das Ich. "Stell'<br />
Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem vergänglichen,<br />
dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und Ich<br />
darf sagen: Ich hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt." Und dieses Ich,<br />
dieses Nichts ist gleichbedeutend mit Gott, wenigstens mit dem Gott Hegels.<br />
Es gibt heute noch gläubige Menschen, die den Anarchisten Stirner<br />
um seines Buches willen für verrückt oder für den leibhaftigen Satan<br />
halten; und es gibt heute noch anders gläubige Menschen, die von ihm, weil<br />
er ein Anarchist war, wieder einmal eine neue Epoche der Menschheit ausgehen<br />
lassen.*) Er war kein Teufel und kein Wahnsinniger, vielmehr ein<br />
stiller, vornehmer, von keiner Gewalt und von keinem Worte zu bestechender<br />
Mensch, der so einzig war, daß er nicht in die Welt paßte, und folgerichtig<br />
so ungefähr verhungerte; er war nur ein innerer Rebell, kein politischer<br />
Führer, weil ihn mit den Menschen nicht einmal eine gemeinsame Sprache<br />
verband. Von dem Leben des außerordentlichen Mannes wußte man<br />
nichts, noch mehr als vierzig Jahre nach seinem Tode gar nichts, bis John<br />
Henry Mackay (1898) mit schönem Eifer alle Nachrichten, die sich noch<br />
auftreiben ließen, zu einer Biographie sammelte. Dort findet man immerhin<br />
mehr als die Notizen, daß er bürgerlich Johann Caspar Schmidt hieß<br />
(Stirner war sein Spitzname bei den "Freien"), daß er 1806 geboren<br />
wurde und 1856 starb. Sein vielseitiges Wissen verdankte er natürlich sich<br />
*) Schultheiß irrt, da er behauptet, keine anarchistische Sekte habe sich auf Stirner<br />
berufen. Die Edel-Anarchisten betrachteten ihn als ihren Philosophen; der Oberstleutnant<br />
von Egidy und mein Freund Gustav Landauer schwärmten für Stirner; Landauer hat<br />
mehr als einen seiner Aufsätze in jungen Jahren mit "Caspar Schmidt" unterschrieben.<br />
Ich habe auf jenen kleinen Irrtum hinweisen zu müssen geglaubt, möchte aber darum<br />
erst recht aussprechen, daß die Dissertation von Hermann Schultheiß (Stirner, Grundlagen<br />
zum Verständnis des Werkes "Der Einzige und sein Eigentum", 1906) das geistig<br />
Beste enthält, was bisher über Stirner geschrieben worden ist.<br />
Stirner 21 1<br />
selbst, hatte aber an der Berliner Universität auch einige der berühmtesten<br />
Professoren zu Lehrern gehabt: die beiden Ritter, Böckh, Neander und<br />
Marheineke, Lachmann, Michelet, Schleiermacher und Hegel selbst. Er<br />
war einer der fleißigsten und scharfsinnigsten Studenten gewesen, also fiel<br />
sein Staatsexamen zur Würde eines Oberlehrers nicht sehr günstig aus.<br />
Der Doktortitel und die akademische Laufbahn lockten ihn nicht. Er ernährte<br />
sich mit Schulmeisterei. Zum Schriftsteller entwickelte er sich in<br />
dem Kreise der "Freien", den ich schon erwähnt habe. Es war eine zwanglose<br />
Gesellschaft von Journalisten, Schriftstellern, auch wohl wagemutigen<br />
Offizieren, die in einer Weinstube der Friedrichstraße ziemlich regelmäßig<br />
zusammenkamen, vormärzliche Freidenker und Freischreiber, Freihändler<br />
und Freistaatler. Als das geistige Haupt dieser satzungslosen Gesellschaft<br />
ist Bruno Bauer zu betrachten, der just 1842, als Stirner seine ersten Aufsätze<br />
veröffentlichte, seine Professur in Bonn verloren hatte, weil er, kein<br />
so gewissenhafter Forscher wie Strauß, aber viel ehrgeiziger, die Bibelkritik<br />
des "Leben Jesu" noch hatte überbieten, fast das ganze Neue Testament<br />
zu einer Fälschung der römischen Kaiserzeit hatte machen wollen.<br />
Wir haben vorhin gesehen, wie sich diese "Kritiker", Bruno und Edgar<br />
Bauer, um die Theologie und um die deutsche Aufklärung verdient machten.<br />
Um diesen Bruno Bauer, der mit Feuerbach den äußersten Flügel der<br />
antichristlichen Hegelianer führte, entbrannte ein Kampf, vom preußischen<br />
Unterrichtsminister geschürt, von den Theologieprofessoren strategisch gelenkt;<br />
Bauer wurde als ein Märtyrer der politischen und religiösen Freiheit<br />
von allen Unzufriedenen gefeiert und genoß eines Ruhms, den sein Charakter<br />
eher verdiente als seine Leistung; die beste Schrift, die damals (1842)<br />
gegen den Freigeist Bauer erschienen ist, stammt aber merkwürdigerweise<br />
nicht von einem Rechtgläubigen, sondern von O. F. Gruppe, dem ersten<br />
Gegner Hegels, und ist noch weit mehr gegen Hegel selbst gerichtet, als gegen<br />
Bauer und Feuerbach; dennoch mußte diese Schrift "Bruno Bauer und die<br />
akademische Lehrfreiheit" im Vormärz zugunsten der Reaktion wirken.*)<br />
*) Ich habe schon oben darauf hingewiesen, daß Gruppe in dieser Schrift (und noch<br />
deutlicher in der Fortsetzung "Lehrfreiheit und Preßunfug", 1843) auf den Kreis von Stirner<br />
angespielt hat; ohne Stirner zu nennen, woher es erklärlich ist, daß diese früheste Polemik<br />
gegen Stirner bisher unbemerkt blieb. In der ersten der beiden Kampfschriften ist es nur<br />
ein flüchtiger Wink, der (S. 71) mit dem Finger auf die „Egoisten" zeigt. In der zweiten<br />
wird (S. 5) eine Berliner Korrespondenz zitiert, die einen "Verein der Freien" als in der<br />
Bildung begriffen rühmt; Gruppe weiß es besser: "Die Freien brauchen auch keinen Gott,<br />
sie bekennen sich selbst und das reine Nichts — und hiermit hoffen sie die Welt zu erleuchten"<br />
(S. 7). Dabei scheint er die Existenz eines Vereins der Freien für eine bloße Zeitungslüge<br />
zu halten. Einerlei, auch eine solche Erfindung sei ein Faktum: man strebe nach einem Verein<br />
von "Freien" oder "Philalethen", welche die Wahrheit anbeten und das Christentum weit<br />
hinter sich zu haben glauben" (S. 46). Ein Jahr nach dieser Denunziation Hegels erschien<br />
Stirners Buch.