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Band 4 - m-presse

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352 Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />

aber ein je gründlicherer Philologe Nietzsche war als die Philologen des<br />

15. und 16. Jahrhunderts, um so gründlicher entwickelte sich sein Haß und<br />

seine Verachtung gegen die Methode der sogenannten Theologen, der<br />

Wissenschaftler des Christentums. Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß<br />

dieser wissenschaftliche Haß erst durch den instinktiven Haß des Immora­<br />

­­sten, des Herrenmenschen, gegen des Christentums Sklavenmoral (das<br />

Wort ist aber von Schopenhauer) bis zu blinder Wut gesteigert wurde.<br />

Nietzsche stand also mit seinem kalten Denken jenseits und außerhalb jeder<br />

Religion und hätte das Christentum eines Angriffs gar nicht mehr gewürdigt,<br />

wenn er nicht ein Erziehungsgeschöpf des Christentums gewesen<br />

wäre; mit seinem glühenden Herzen war er eben doch ein christlicher<br />

Rebell. Weil er nun weit mehr durch seine lebensheiße Persönlichkeit,<br />

die er oft und schön mit dem Sturme oder mit der Flamme vergleicht,<br />

gewirkt hat, als durch sein abstraktes Denken, darum dürfen wir uns nicht<br />

wundern, wenn er für die neue Jugend zunächst und vor allem der Antichrist<br />

geworden ist, während im ganzen seiner Philosophie die antichristliche<br />

Tendenz durchaus nicht die Hauptsache ist; in einem der vielen Entwürfe,<br />

in denen er sein "System", den Willen zur Macht oder die Umwertung<br />

aller Werte, mit wenigen Worten übersichtlich zusammenstellte,<br />

in dem Entwurfe vom Sommer 1886 (Nietzsches Werke, <strong>Band</strong> 15, S. 521)<br />

kommt der Ausdruck Christentum überhaupt nicht vor. Als Inhalt des<br />

zweiten Buches, das nachher die Kritik des Christentums enthalten sollte,<br />

wird nur angegeben: "Kritik der Werte (der Logik usw.)". Das tonlose<br />

„usw." umfaßt hier die ungeheuere Weltmacht des Christentums, wie das<br />

prachtvoll kecke "und so weiter", mit dem Lenau seine "Albigenser" beschließt,<br />

alle Gegner des Christentums und der Unfreiheit umfassen will.<br />

Auch alle anderen bedeutenden Denker versteht man erst ganz, wenn<br />

man durch ihre Schriften hindurch bis zum Kern ihrer Persönlichkeit durchgedrungen<br />

ist; was um so schwerer fällt, je mehr sie sich bemüht haben,<br />

ihre Persönlichkeit hinter einer möglichst objektiven Darstellung ihrer Lehre<br />

zu verbergen. Bei Nietzsche liegt der einzige Fall vor, daß ein Denker,<br />

nachdem ihm erst das Bewußtsein seiner Geisteskraft aufgegangen war,<br />

zuerst in einem dichterischen Selbstporträt das Ringen um die neuen Ideen<br />

darstellte und nachher für eine objektive Ausgestaltung seiner Ideen die<br />

Kraft nicht mehr besaß. Daher kommt es, daß wir uns am besten an den<br />

"Zarathustra" halten, wenn wir nicht Kleinkram treiben wollen. Zarathustra<br />

ist ein künstlerisch gestalteter Nietzsche; wer daran zweifelt, hat<br />

keine Augen und keine Ohren. Durch alle Schleier, Verkleidungen und<br />

Masken der Klugheit, der Vorsicht, der Scham, der Übertreibung und der<br />

reinen Poesie ist Nietzsche selbst in zynischer Nacktheit zu erkennen. Mitunter<br />

Nietzsche — Zarathustra 353<br />

sogar der Mensch Nietzsche in seiner Umwelt, immer der Denker Nietzsche,<br />

der mit seinen Ideen ringt; und da er zu ringen niemals aufgehört hat,<br />

die ganze Philosophie Nietzsches. Auch sein Ringen mit Gott.<br />

Nur mit dem Christentume hatte Zarathustra, der Nietzsche der Zarathustra-Dichtung,<br />

nicht mehr zu ringen. Das betrachtete er ebenso wie<br />

Stirner als „längst" überwunden. Was kümmerten den Einzigen die<br />

Anderen? Was kümmerte den Verkünder des Übermenschen der Rest von<br />

Menschheit? Das Gedicht ist durch und durch noch antichristlicher als das<br />

Pamphlet "Der Antichrist", weil in dem Gedichte sogar die letzte Anerkennung<br />

dieses Feindes fehlt, der Haß. Von den Vorgängern Nietzsches war der<br />

Stifter der christlichen Religion bald (und das fast immer und bis in die<br />

Gegenwart hinein) von allen Schmähungen ausgenommen worden,<br />

bald hatten sie selbst den reinen Jesus die Wundergeschichten entgelten<br />

lassen und ihn neben die anderen "Betrüger" gestellt; Nietzsche, trotz seiner<br />

Rückständigkeit in diesem Punkte, beteiligte sich als Dichter an solchen<br />

Dingen nicht; wie ein Hund über die Rücken wimmelnder Schafherden<br />

wegblickt, so er über die kleinen wohlwolligen, wohlwilligen grauen Leute<br />

und den Prediger und die wunderlichen Heiligen dieser kleinen Leute.<br />

Der Lehrer des Übermenschen verachtete den Begriff der Erlösung und<br />

den Glauben an eine unsterbliche Seele.<br />

Nietzsche war kein „Antisemit"; er hat den Antisemiten, die aus Grundsatz<br />

lügen, bittere Wahrheiten gesagt. Aber dem guten Europäer Nietzsche,<br />

der noch im „Zarathustra" Schopenhauers Wort vom Judengotte nicht<br />

vergessen hatte, war es unerträglich, im Christengotte einen Juden sehen<br />

zu müssen. „Nun geht's schief! Nie sank die Welt so tief! Rom sank zur<br />

Hure und zur Huren-Bude, Roms Cäsar sank zum Vieh, Gott selbst— ward<br />

Jude!" Diese kecken Reime, ferner die Parodie einer Litanei (die uns noch<br />

beschäftigen wird) und endlich die Gestalt des letzten Papstes, der noch<br />

gottloser ist als Zarathustra, können nur den Unverstand zu der Meinung<br />

verführen, Nietzsche, der protestantische Pfarrerssohn, habe jemals insbesondere<br />

den Katholizismus treffen wollen. Das lag tief unter ihm. Die<br />

Kirchturmstreitigkeiten der christlichen Sekten beachtete er kaum. Der<br />

Katholizismus war ihm nur das konsequente Christentum, der Papst das<br />

Symbol der Kirche, der gesunden Kirche; ihm war diese alte gesunde Kirche<br />

eines jähen Todes gestorben, nicht an der schleichenden Krankheit des<br />

Luthertums, das Nietzsche nicht ernst nahm. Ich glaube das dunkle Stück<br />

"Der häßlichste Mensch" richtig zu deuten, wenn ich annehme, daß Nietzsche<br />

bei dem häßlichsten Menschen an Schopenhauer dachte, seinen einstigen<br />

„Erzieher", an den Prediger des Mitleids. An seinem Mitleiden ist der<br />

Christengott gestorben, so fühlte es der Dichter; und der Sophist Nietzsche

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