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Band 4 - m-presse

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370<br />

Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />

samen dänischen Schüler Brandes hingewiesen, die früh schon die Bedeutung<br />

der geistigen Befreier für die Dichter ihrer Gegenwart erkannten,<br />

die immer noch unsere Gegenwart ist. Es sind jetzt gerade hundert Jahre<br />

seit Shelleys Tode vergangen; aber nicht viel über dreißig Jahre, daß die<br />

neue "Ästhetik" des mächtigen Taine und des französelnd (trotz aller Lokalpatriotismen)<br />

witzigen Brandes mit ihrer Abkehr von allen kirchlichen und<br />

klassizistischen Dogmen so weit Gemeingut der französischen und der deutschen<br />

Literaturmenschen wurde, daß sich auf die neuen Werte eine neue<br />

"Richtung" gründen ließ; wie ein solides Bankunternehmen; zunächst und<br />

ohne Verhältnis zu den großen Aufgaben der Geistesbefreiung unter dem<br />

Namen des "Naturalismus". Man glaubte die Periode der deutschen<br />

„Stürmer und Dränger" wieder zu erleben und ahnte nicht, daß auch die<br />

Lenz, Wagner und Klinger — von Goethe gar nicht erst zu reden — echte<br />

Rebellen waren, weit über Stil- und Sprachkühnheiten hinaus. Nicht vergessen<br />

darf werden, daß just damals — vor etwas mehr als dreißig Jahren<br />

also — Nietzsche bekannt wurde und auch seine Umwertung aller Werte<br />

als eine zunächst ästhetische Revolution von der dichterischen Jugend mißverstanden<br />

wurde. Sein etwas plumper Angriff auf Schiller, als den Moraltrompeter,<br />

wurde sprichwörtlich. Aber die nicht literarische Jugend, die<br />

der geisteshungrigen Arbeiter, ahnte das Ziel und schloß sich lärmend der<br />

Bewegung an, die eigentlich erst durch die behördliche Parteinahme gegen<br />

alle "Rinnsteinkunst" aus einer sprachlich-literarischen zu einer kirchen- und<br />

sittenfeindlichen geworden war.<br />

Gerade um die Zeit als die reale Machtepoche des Zeitalters Bismarcks<br />

in die irreale Theaterheldenepoche des wilhelminischen Zeitalters<br />

überzugehen begann, unter heimlicher Nachwirkung Bismarcks, errang also<br />

diese Umwertung aller Werte ihren Sieg über die deutsche und (eigentlich<br />

schon etwas früher) über die abendländische Jugend. Den ersten Anstoß<br />

zu dieser Revolution der Charakterologie — wie ich lieber sage als<br />

"Ethik" — war von der Entwicklungsstufe der Hegelei ausgegangen, zu<br />

deren Exponenten oder Spruchsprecher ich Kierkegaard gewählt habe.<br />

Ungefähr um die gleiche Zeit, da der politische Ernst in Deutschland mit<br />

Bismarck ruchlos leichtsinnig fortgejagt wurde, feierte der Ernst in Dichten<br />

und Denken seine entscheidenden Triumphe. Nach dem Inhalt und nach<br />

der Form. Die amoralische Lebensansicht Nietzsches, die man seine Philosophie<br />

zu nennen pflegt, eroberte das neue Geschlecht so völlig, daß sie zu<br />

einer Mode zu verallgemeinern drohte; und in den gleichen Jahren kam,<br />

äußerlich im Gegensatz zu dem aristokratischen Individualismus Nietzsches,<br />

der sprachliche Naturalismus von Frankreich aus auf den Gipfel seiner<br />

Macht. Es gibt da Zusammenhänge, denen man genauer nachspüren<br />

Freie Bühnen 371<br />

sollte: zwischen der naturalistischen Umstellung der Poesie und der Gottesleugnung,<br />

zwischen der Renaissance der Pöbelsprache und dem zielbewußten<br />

Ansturm des Proletariats gegen den alten Obrigkeitsstaat. Es ist kein Zufall,<br />

daß Brahm und Schlenther — der geschäftliche und der diplomatische<br />

Leiter der "freien" Bühne — die Stilunterschiede gar nicht wahrnahmen<br />

zwischen dem Naturalismus Zolas, dem Alles- oder Nichts-Gedanken Ibsens<br />

und dem christlichen Proletarismus Tolstois, denn Brahm wie Schlenther<br />

waren blind für Weltanschauungsfragen. Diese Tendenzen hatte Bismarck<br />

niedergehalten, mit mehr Ironie als Zorn, weil sie ihn in seiner Lebensarbeit<br />

da oder dort stören konnten. Unter der Theaterspielerei der Folgezeit<br />

brachen diese Tendenzen sich Bahn, zufällig wirklich auf dem Gebiete des<br />

Theaters, in den Freien Bühnen. Das Vorbild bestand schon, von Charles Freie<br />

Antoine geschaffen, seit mehreren Jahren in Paris; für Berlin nachgebildet<br />

wurde diese Form eines Kampfes gegen alle Theaterzensur durch die damals<br />

noch jungen Schriftsteller Maximilian Harden und Theodor Wolff; und<br />

just 1889 war der Verein Freie Bühne fertig, jetzt geleitet von den sehr ungleich<br />

begabten, aber gleich geschäftstüchtigen Theaterkritikern Brahm und<br />

Schlenther, die denn auch später viel genannte Theaterdirektoren wurden.<br />

Diese Freie Bühne stellte sich also zunächst die Aufgabe, gegen die<br />

allzeit rückständige Polizei verbotene Werke aufzuführen, naturalistische,<br />

amoralische, meinetwegen unmoralische, gotteslästerliche Stücke. Die<br />

Vereinsmitglieder zu erziehen zu der Umwertung der dramatischen Poesie<br />

durch die Ankläger Ibsen und Tolstoi. Ich bin bei dieser Bewegung (und<br />

dann bei der breiteren der Freien Volksbühnen) nicht nur als Zuschauer<br />

mitbeteiligt gewesen und könnte darüber berichten, wie es in diesem scheinbar<br />

ästhetischen Kampfe nicht immer tapfer zuging; aber die Gesamtwirkung<br />

war die einer befreienden Tat.<br />

Erst recht seitdem Bruno Wille, der Sprecher der freireligiösen Gemeinde,<br />

den Gedanken aufgriff und für die unzähligen Arbeiter Berlins<br />

den Verein der Freien Volksbühne gründete (1890), der dann von der<br />

sozialdemokratischen Partei in Wien, München, Kopenhagen und London<br />

nachgeahmt wurde. Die Freie Bühne konnte schon nach drei Jahren eigentlich<br />

ihre Tätigkeit einstellen, weil sie nichts mehr zu tun hatte; die Freie<br />

Volksbühne hat sich zu einer mächtigen Einrichtung ausgestaltet. Die<br />

satten Mitglieder der Freien Bühne hatten unter dem Schillerbiographen<br />

Brahm den Kriegsruf erlernt: los von Schiller; die Arbeiter und anderen<br />

kleinen Leute, die sich trotzig Proletarier nannten, waren nach Kunst und<br />

Wissen noch hungriger als nach auskömmlicher Nahrung und sammelten<br />

sich unter dem freireligiösen Bruno Wille nach der viel kriegerischeren<br />

Parole: Entweder — Oder, los von Gott, los von jeder Autorität. Man

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