Band 4 - m-presse
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298 Viertes Buch. Achter Abschnitt<br />
für den stürmenden Nietzsche eben nur eine Enttäuschung mehr in der<br />
tragischen Einsamkeit seines Ringens. Er hatte den Schüler Schopenhauers<br />
auf die Liste der möglichen „philosophischen Freunde" (1867) gesetzt;<br />
als Bahnsen sich ihm aber später zu nähern suchte, erhielt er gar keine<br />
Antwort. Vielleicht fühlte sich der wesenhaft vornehme Nietzsche von der<br />
Schauspielereitelkeit Bahnsens abgestoßen, die in den abstrakten Schriften<br />
nicht so sichtbar ist, wie in den autobiographischen. Schwerlich kannte<br />
Nietzsche die Arbeiten, in denen Bahnsen den Pessimismus Schopenhauers<br />
dialektisch zu überbieten suchte. Der Pessimismus dürfe nicht bruchstückartig<br />
bleiben, müsse zur Weltanschauung werden (Louis, S. 168); der<br />
führe dann nicht zu Wahnsinn oder Selbstmord; "die Regel wird sein,<br />
daß der pessimistische Überblick über das Gesamtschicksal gerade zum Sicherheitsventil<br />
wird gegen alle Explosiveruptionen (?) vorzeitiger Verzweiflung"<br />
(S. 177). Bahnsen befreit sich aber von solchem Schwulste und<br />
erinnert wirklich einmal an das Heldenmaß Nietzsches, wenn er seine<br />
pessimistische Kampfeslust mit der Frage begründet: „Was in aller Welt<br />
hat denn der Mut mit der Hoffnung zu tun?" Und hinzufügt: „Der bloßen<br />
Klugheit freilich ist Nichts-mehr-Hoffen gleichbedeutend mit Mutlosigkeit<br />
— aber in Wahrheit der Mut doch nur um so größer, wo einer ihn<br />
trotz Hoffnungslosigkeit aufrechterhält" (S. 180).<br />
Um so mehr verfällt Bahnsen wieder in eitlen Schwulst, wenn er sich<br />
gegen den Vorwurf des Nihilismus zur Wehr setzt und doch nicht umhin<br />
kann, mit diesem anrüchigen Schlagworte zu kokettieren. Er hat einmal<br />
den scheingeistreichen Satz gewagt: "Der Mensch ist nur ein sich bewußtes<br />
Nichts"; jetzt steigert er sich und den Satz zu dem — ich kann nicht anders —<br />
Galimathias: „Hegels Begriffsdialektik suchte die Nihilenz als Resultat<br />
des Weltprozesses, reichte aber über den kahlen Begriff der Nihilität<br />
nicht hinaus — und ich, umgekehrt, wollte mich von Hause aus mit der<br />
abstrakt begrifflichen Nihilität begnügen und fand, dank der Bekanntschaft<br />
mit Schopenhauer, die ungleich tiefer begründete und weitergreifende<br />
Nihilenz" (S. 161). Es gebe vier Stufen oder Arten oder sonstwas des<br />
Nihilismus: die Glaubenslosigkeit, den Skeptizismus, den vulgären Pessimismus,<br />
d. h. die Verurteilung der Welt, viertens eine unklare Verbindung<br />
von objektivem und subjektivem Nihilismus. Bahnsen rühmt sich<br />
(S. 162), Schopenhauer und Hegel nach dem Vorbilde Hartmanns vereinigt<br />
zu haben. "Ich teile den Glauben nicht, daß die Welt zu nichts werden<br />
könne, aber sozusagen nur deshalb nicht, weil man nicht zu dem erst wird,<br />
was man, und obendrein in mehr als einem Wortverstande, bereits ist."<br />
Ich habe nachzutragen, daß Julius Bahnsen 1830 zu Tondern in<br />
Schleswig geboren wurde, den Feldzug von 1849 als Freiwilliger mit<br />
Julius Bahnsen 299<br />
machte, in Tübingen (starker Einfluß durch Vischer; daß Bahnsen aber<br />
das Urbild des "Auch Einer" sei, ist Unsinn) studierte, eine kurze glückliche<br />
und eine zweite unglückliche Ehe schloß und als Oberlehrer 1881 starb.<br />
Ich habe besonders nachzutragen, daß das anonyme "Pessimisten-Brevier",<br />
vor vierzig Jahren von unreifen Jünglingen bewundert, heute unlesbar<br />
geworden ist, weil es (mit dem Verfasser zu reden) nur vulgären Pessimismus<br />
bietet, fast möchte ich das Wort wagen: einen vulgären Pechismus.<br />
Nicht der Menschheit ganzer Jammer faßt den Elendprediger an;<br />
er faßt immer nur das Pech an und besudelt sich. Der Stil ist holprig,<br />
im Vers wie in Prosa, wie er selbst es ausdrückt:<br />
„Wäre eurhythmisch mein Vers, so paßte er schlecht auf das Leben,<br />
Soll er da bleiben im Schritt, muß auch er hapern im Takt."<br />
Es klingt wie die bekannten Parodien auf die Xenien von Goethe-Schiller.<br />
Zur Atheismusfrage stellt sich das Brevier nicht ganz eindeutig.<br />
„Man wird nicht Pessimist aus Gottlosigkeit, sondern Atheist aus Pessimismus."<br />
Es fehlt nicht an gequälten Blasphemien. Ob Satanas siege<br />
oder das Gute, das hänge vom Zufall ab. "Die Maxime wegen der<br />
großen und kleinen Diebe scheint der Weltenrichter seinen Menschenkindern<br />
abgeguckt zu haben." Wie Selbstkritik mutet uns heute an, was<br />
Bahnsen wohl gegen Hartmann gerichtet wissen wollte: "Die abgerissene<br />
Doktrin des Pessimismus und Nihilismus erscheint wie eine zu Häcksel<br />
verschnittene, distelströherne Weisheit — ein trockenes, halsstechendes<br />
Futter aus ärmlichster Geisteskrippe."<br />
Bevor ich mich nun, nach dem kurzen Blick auf den Popularphilosophen<br />
der Zeit und auf seinen pessimistischen Jünger, dem politischen<br />
Führer selbst zuwende, halte ich es für meine schöne Pflicht, eines Mannes<br />
zu gedenken, der von den Liberalen, die sich ja auch Freidenker nennen,<br />
fast immer falsch und schief beurteilt wird, weil er — seines Zeichens nur<br />
ein unnahbar gelehrter Orientalist — in Fragen der Religion und der<br />
Schule oft der Reaktion zu dienen schien. Oder doch von der Reaktion gern<br />
in Anspruch genommen wurde. Lagarde war aber ein durchaus überlegener<br />
Geist, einer von den trotzigen und ganz unabhängigen Junkern, die es<br />
recht gut vertragen, mit dem großen Junker verglichen zu werden. Übrigens<br />
auch, wie Bismarck, in seinen politischen Schriften und sogar in<br />
einigen Gedichten ein Künstler, der das Instrument der deutschen Sprache<br />
als ein Meister beherrschte. Ein konservativer Atheist, sozusagen, und ein<br />
nationaler Sozialist dazu. E i n Ganzfreier.<br />
Paul Anton de Lagarde (geb. 1827, gest. 1891, eigentlich hieß er Bötticher)<br />
hat so viel von dem vorweggenommen, was ich über Sprachwissen