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Band 4 - m-presse

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336 Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />

Flaubert, der in dem wunderlichen Buche "Bouvard et Pécuchet"<br />

ebenfalls alles geprüft und alles verworfen hatte, um in einem bittern<br />

Skeptizismus des Lebens zu enden, in einem Ekel vor der Menschheit,<br />

während Tolstoi sich schöner und unlogischer in einen liebevollen Glauben<br />

an die Menschheit rettete.<br />

Die Entwicklung von Tolstois Persönlichkeit ist besser als aus seinen<br />

Schriften, die die Hinterhältigkeit aller Pädagogik haben, die ganz ehrlich<br />

geschrieben sind, aber doch nur ehrlich für die Öffentlichkeit geschrieben —<br />

die Entwicklung Tolstois ist besser zu studieren aus seinem Briefwechsel<br />

und aus seinen Tagebüchern. Zunächst aus seinem Briefwechsel mit<br />

seiner Base, der Hofdame Gräfin Alexandra Andrejewna Tolstoi. Für<br />

das Verständnis dieser Briefe, die deutsch als erster <strong>Band</strong> der Tolstoi-<br />

Bibliothek (herausgegeben von Ludwig Berndl) erschienen sind, sind die<br />

Erinnerungen der Gräfin wertvoll; gerade weil sie, übrigens ein prächtiger<br />

Mensch und auch geistig ihrem Neffen verwandt, streng auf dem Boden<br />

ihrer Kirche steht, an den Teufel glaubt und den berühmten Schriftsteller<br />

so gern bekehren möchte, ist ihren Aussagen über Tolstois Unglauben<br />

unbedingt zu trauen; der Briefwechsel dreht sich denn auch sehr oft um<br />

die Wahrheit der christlichen, der orthodoxen Religion. Von der Gräfin<br />

erfahren wir, daß Tolstoi lange Zeit seinen Kinderglauben bewahrte, daß<br />

er dann wie durch ein Fenster, das sich in seiner Seele geöffnet hatte, Gott<br />

sah und daneben nichts mehr brauchte, daß er in Jesus Christus dann nur<br />

den ersten aller Sittenlehrer erblickte, seine Göttlichkeit und sein Erlöseramt<br />

leugnete; den Mittler lehnte er noch schroffer ab, weil ihm der Gedanke,<br />

seine Sünden durch einen anderen abbüßen zu lassen, als eine<br />

Gotteslästerung erschien. Die Gräfin sah in Tolstoi (sie zitiert das Bild<br />

als eine boshafte Äußerung von Turgenjew) einen Elefanten, den man<br />

in einem Blumengarten umhergehen läßt und der dort ahnungslos die<br />

schönsten Blumen zertrampelt. Der Briefwechsel dauert ungefähr von<br />

dem dreißigsten Lebensjahre Tolstois bis kurz vor dem Tode der Gräfin;<br />

aber eben der religiöse Gegensatz hat aus einer innigen und hohen<br />

Freundschaft in den letzten Jahren zu einer Entfremdung geführt, die<br />

nicht mehr zu heilen ist. "Wir haben verschiedene Wege; aber unsere<br />

Wege kreuzen sich bisweilen."<br />

Schon 1858 äußert er sich über die unbedingte Naturnotwendigkeit<br />

in der Natur. "Une brute, werden Sie sagen. Une brute ist aber Glück<br />

und Schönheit und Harmonie mit der ganzen Welt. Der Baum stirbt<br />

ruhig, ehrlich und schön. Schön, weil er nicht lügt, weil er nicht grimassiert,<br />

nichts fürchtet und nichts bedauert . . . Erzählen Sie nichts davon, daß<br />

ich solch ein Atheist bin."<br />

Lew N. Tolstoi 337<br />

Ostern 1859. "Ich kann Fastenspeisen essen mein Leben lang, ich<br />

kann in meinem Zimmer beten, auch den ganzen Tag, kann im Evangelium<br />

lesen und eine Zeitlang denken, daß das wichtig ist; aber in die Kirche<br />

zu gehen, in der Kirche zu stehen, den nicht verstandenen und unverständlichen<br />

Gebeten zuzuhören, auf den Popen zu schauen und auf das ganze<br />

gemischte Volk ringsum, das ist mir unmöglich." Da die Gräfin darauf<br />

mit Klagen antwortet, sendet ihr Tolstoi erst recht sein Glaubensbekenntnis.<br />

Die Überzeugung eines Menschen — nicht diejenige, von der er<br />

spricht, sondern diejenige, die er durch sein ganzes Leben erwirbt — sei<br />

einem anderen Menschen nur schwer begreiflich zu machen. Als Kind habe<br />

er feurig, sentimental und gedankenlos geglaubt; von seinem vierzehnten<br />

Jahre etwa habe er es für ein Verdienst gehalten, die Religion zu zerstören,<br />

für die in seinen Theorien kein Platz mehr war; was er dann in seiner<br />

Militärzeit, ungefähr um sein fünfundzwanzigstes Jahr herum, hinzufand,<br />

werde immer seine Überzeugung bleiben. "Ich entdeckte, daß es eine<br />

Unsterblichkeit gibt und daß man für andere leben muß, um glücklich zu<br />

sein." Er bemerkte die Ähnlichkeit dieser Ideen mit der christlichen Religion,<br />

suchte aber in den Evangelien vergebens nach Gott, Erlöser oder Sakramenten.<br />

Er habe seit dieser Zeit trotz aller Sehnsucht danach keine Religion<br />

und glaube nicht. "Außerdem macht bei mir das Leben die Religion und<br />

nicht die Religion das Leben." (Man sieht, Tolstoi ist darin radikaler als<br />

Deisten und Aufklärer, daß er überhaupt nichts mehr glauben möchte;<br />

aber inbrünstig wie nur ein gläubiger Pietist hängt er seine Seele an<br />

Jesus Christus, den er doch wieder als Gott und Erlöser ablehnt; man<br />

könnte ihn einen naturalistischen Pietisten nennen.)<br />

Zwei Jahre später scherzt Tolstoi darüber, daß die Gräfin ihn immer<br />

für einen Gottesleugner halte, während er doch dem Popen befehle,<br />

wie er den Kindern das Evangelium auszulegen habe; Tolstoi ist inzwischen<br />

auf seinem Gute der Gründer einer freien Schule geworden und hat sich<br />

der Erziehung gewidmet. Er glaubt die Menschen nicht mehr zu lieben,<br />

er glaubt sie nur noch zu bedauern. Er ist ganz sicher kein Christ mehr,<br />

aber er läßt die Kinder in einem Christentum seiner eigenen Mache unterrichten.<br />

Im Interesse der Kinder sucht er sich einzureden, daß er eine<br />

unsterbliche Seele habe und an Gott glaube; denn er will kein Aufklärer<br />

sein, will die Kinder nicht bloß vernunftgemäß erziehen; in den Kindern<br />

sei noch etwas anderes als Vernunft.<br />

Inzwischen ist Tolstoi durch seine beiden großen Romane berühmt<br />

geworden, ein Stolz Rußlands. Das befriedigt ihn nicht; er hat (im<br />

Gegensatze zu Flaubert) keinen künstlerischen Ehrgeiz, nicht einmal die<br />

Sorgfalt des Sprachkünstlers. Dazu ist er mit den russischen Verhältnissen

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