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Band 4 - m-presse

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156<br />

Viertes Buch. Vierter Abschnitt<br />

Erklärungsversuche. "Gott" ist ein Wort für eine hypothetisch angenommene<br />

Kraft, wie "Verstand" oder "Vernunft" andere Worte für angenommene<br />

Kräfte sind; alle diese Hypothesen haben das Dasein erst zu erweisen und<br />

dürfen sich bei dem Beweise der Realität nicht auf die Existenz der Worte<br />

oder Begriffe berufen.<br />

Kritik der Ich glaube dem uralten Gottesbegriffe einen recht hohen Grad von<br />

Achtung zu beweisen, wenn ich ihn hier, im Zusammenhange mit dieser<br />

Darstellung der Entwicklungslehre, neben die Begriffe Raum und Zeit<br />

und Verstand stelle. Wie Raum und Zeit nur die ererbten Formen der<br />

Anschauung sind, so ist auch der Gottesbegriff nicht eine Welterklärung,<br />

sondern nur die ererbte Form oder Formel einer Erklärung. Zu dieser<br />

Einsicht hätten schon Kant und Spencer gelangen müssen, wenn sie konsequent<br />

gewesen wären, Kant in der Unterscheidung zwischen der Erscheinung<br />

und dem Dingansich, Spencer in seiner Lehre von dem Unerkennbaren.<br />

Ich glaube noch weiter gehen zu dürfen, weil mir der menschliche Verstand<br />

selbst, durch den wir zu allen diesen Begriffen kommen, eben auch nur die<br />

ererbte Vorstellung von einer Kraft ist, die auf ererbte Sinneswahrnehmungen<br />

zurückgeht. Diese Wahrnehmungen beruhen nun gar auf unseren<br />

menschlichen Sinnen, die wir als Zufallssinne erkannt haben. Die Sprache<br />

ist materialistisch, der Verstand ist sensualistisch, der Ichbegriff ist eine<br />

Illusion. Man sage sich nun selbst, welche Realität das göttliche Ich für<br />

uns noch haben kann, zu dem die gewordene und materialistische Sprache<br />

mit Hilfe des gewordenen und sensualistischen Verstandes uns geführt hat.<br />

Solche Gedankengänge blieben dem englischen Denken fremd, auch<br />

wo es sich an der sogenannten deutschen Philosophie geschult hatte; es<br />

blieb, weit mehr als im neuen Frankreich und Deutschland, in der Behandlung<br />

letzter Fragen theologisch gerichtet; und dabei fehlte ihm die Gegenstimmung<br />

gegen die Kirche: die Stimmung der Mystik. Wie diese Stimmung,<br />

die uns bei Nietzsche so dichterisch schön anmutet, dem nüchternen Agnostizismus<br />

völlig fehlt. Nietzsches Andacht zur Lebenslüge ist darum etwas ganz<br />

anderes als die Lehre des englisch-amerikanischen Pragmatismus, nach der<br />

Ideen so ungefähr nach ihrem Nutzen zu bewerten seien. Die Kirche wird<br />

den Pragmatismus nach seinem Nutzen sicherlich zu bewerten wissen.<br />

Diese konservative Neigung, der Religion gegenüber, bestand in England<br />

schon lange vorher, schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts;<br />

man dünkte sich so frei und aufgeklärt, namentlich in politischen Dingen,<br />

daß man jede Revolution hassen zu dürfen glaubte. Wenn man die neuere<br />

religiöse Bewegung Englands mit der des Festlandes vergleicht, so erscheint<br />

sie zunächst rückständig, rückständig auch, wenn man an die Bedeutung<br />

des englischen Deismus und der englischen Erkenntniskritik im<br />

Kingsley 157<br />

17. und 18. Jahrhundert denkt; das junge Europa war nach der Revolution<br />

von 1830 unchristlich geworden, eigentlich schon gottlos, in England<br />

versuchte man es, den Umsturz mit dem Christenglauben zu verbinden.<br />

Hier war D. F. Strauß der Führer, in politischen Dingen ein Philister,<br />

in geistigen ein Rebell, dort Kingsley, politisch radikal, sonst christelnd.<br />

Man sollte den prächtigen Kingsley nicht nach seinem berühmtesten Buche Kingsley<br />

beurteilen, dem Romane Hypatia, der trotz einer kirchenfeindlichen Tendenz<br />

für uns unlesbar geworden ist durch seine theologische Färbung. Wieder<br />

muß ich vor unserer Gewohnheit warnen, diese konservative Neigung der<br />

Engländer, dieses Festhalten alter Formen, dieses Christeln einfach für<br />

englische Heuchelei zu erklären; Zugehörigkeit zur Kirche ist in England<br />

nicht Heuchelei, sondern Sache des Anstandes, wie der Frack beim Abendessen<br />

im Bewußtsein des Engländers eben auch nicht Heuchelei ist.<br />

Kingsley ist mit seiner reichen Persönlichkeit hervorgegangen aus der<br />

sogenannten Oxforder Bewegung, die mit der allgemeinen europäischen<br />

Reaktion und mit der deutschen Romantik vielfach zusammenhing, sich aber<br />

sehr früh in eine freie und eine unfreie Richtung trennte; wie etwa in<br />

Deutschland die Schule Hegels zu derselben Zeit in eine Rechte und in<br />

eine Linke auseinanderfiel. (Ich kehre gleich zu Kingsley zurück.)<br />

Der Einfluß deutscher Poesie und Philosophie ist am deutlichsten<br />

nachzuweisen bei Coleridge (1772—1834), der als Dichter zu den Begründern<br />

der "Lake-School" als Theologe zu den besten Männern der<br />

Broad Church Party gehörte. Er hatte sich in Göttingen mit deutscher<br />

Wissenschaft abgegeben und eine entschiedene Unklarheit heimgebracht;<br />

er glaubte sich bei seinen Bestrebungen mit gleichem Rechte auf Kant und<br />

Jacobi, auf Spinoza und Schelling berufen zu können. So schwankte er<br />

zwischen einem immer christelnden Pantheismus und einem ganz christlichen<br />

Theismus hin und her. Die Grundlage des Glaubens, den er ehrlich<br />

predigte, war bald die Bibel, bald die praktische Vernunft Kants. Nur die<br />

Verquickung der religiösen und der politischen Parteien in England macht<br />

es begreiflich, daß Coleridge und seine Freunde die Liberalen hießen. In<br />

England hatte früher noch als auf dem Festlande eine Reaktion gegen den<br />

Rationalismus der französischen Revolution eingesetzt; aus der Tiefe des<br />

Gemüts wollte man besonders die kahl gewordene Kirche reformieren,<br />

bald durch Herzensfrömmigkeit im Sinne eines gewissen Pietismus, bald<br />

durch Rückkehr zum mittelalterlichen Katholizismus. Beide Neigungen verhinderten<br />

nicht, daß in der ganzen Zeit von den Napoleonischen Kriegen<br />

bis zur Julirevolution die englische Hochkirche, die eigentliche Staatskirche,<br />

durch gesetzliche Maßnahmen wie durch Tumulte an Ansehen verlor. Der<br />

stärkste Ansturm gegen die gemütlose, in Formen erstarrte Kirche erfolgte

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