Band 4 - m-presse
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308 Viertes Buch. Achter Abschnitt<br />
heit nicht im klaren ist und dem Kranken doch den Glauben beizubringen<br />
wünscht, daß das Heilverfahren bereits eingeleitet sei: jedenfalls ist Kultur<br />
in den Augen derer, die von Kulturkampf reden, das Höchste, was sie<br />
überhaupt kennen, so sehr das Höchste, daß sie alles mögliche, sogar den<br />
Patriotismus, jetzt in Kultur nehmen."<br />
Die Sprachsünde, die mit dem Worte sowohl von Virchow als von<br />
Bismarck begangen wurde — noch nicht von Lassalle, als er 1858 das Wort<br />
auf den großen Geisteskampf der Menschheit anwandte —, bestand darin,<br />
daß da politische Gegenmaßregeln gegen die politischen Folgen des neuen<br />
Unfehlbarkeitsdogmas für Forderungen der Denkfreiheit ausgegeben<br />
wurden. Fürst Bismarck war nicht ganz ehrlich, da er die Sicherung des<br />
protestantischen Kaisertums einen Kampf für die Kultur nannte, die<br />
Fortschrittspartei war noch unehrlicher, da sie Äußerungen der Staatsomnipotenz<br />
unterstützte, gegen eine einzelne Kirche, in der immer<br />
getäuschten Hoffnung, die wirkliche Trennung von Kirche und Staat,<br />
von Kirche und Schule herbeiführen zu können. Was bei dem ganzen<br />
Lärm schließlich herauskam und bestehen blieb, war die Abschlagszahlung<br />
einer Zivilstandsgesetzgebung: Geburten, Heiraten und Todesfälle<br />
sollten von Staatsbeamten registriert werden und nicht von Kirchenbeamten.<br />
In immer neuen Wendungen lehnte es Bismarck ab, bei diesen<br />
Beratungen theologische Fragen zu berühren; jedes Dogma, das von<br />
Millionen geglaubt werde, sei für ihn heilig. Man achte auf den Unterschied:<br />
als der Katholizismus noch die einzige Kirche des christlichen Abendlandes<br />
war, jede Auflehnung gegen die Unfehlbarkeit der Kirche noch eine<br />
theologische Ketzerei, da konnte jede Kritik des Katholizismus zugunsten<br />
der Geistesbefreiung gebucht werden; selbst die Reformation Luthers<br />
konnten kurzsichtige Politiker so betrachten; jetzt aber waren auch die liberalisierenden<br />
Maigesetze nur Schachzüge in einem inneren Religionskriege<br />
und eigentlich doch Zeichen von Unduldsamkeit. Aus den unzähligen<br />
Reden und Schriften, die sich mit dem Kulturkampfe beschäftigten, greife<br />
ich nur ein Büchlein heraus, um des Verfassers willen und weil darin die<br />
Begriffe wissenschaftlich und sauber dargelegt wurden. Eduard Zeller,<br />
selbst kein Denker und kein Staatsmann, aber mit Recht berühmt als der<br />
Verfasser einer ausgezeichneten Geschichte der griechischen Philosophie,<br />
seit seiner Jugend streitlustig als freisinniger protestantischer Theologe,<br />
wie seine Freunde, die ehemaligen Hegelianer Strauß und F. C. Baur,<br />
fühlte sich verpflichtet, dem Reichskanzler in seinem Vorgehen gegen die<br />
Zeller über katholische Kirche offiziös beizuspringen. Zeller (geb. 1814, gest. 1908)<br />
den war noch nicht ganz sechzig Jahre alt, als er 1873 seine Vorlesungen über<br />
Kulturkampf "Staat und Kirche" in den Kulturkampf warf. Wie gewöhnlich, wenn<br />
Bismarck 309<br />
deutsche Professoren Tagesfragen behandeln, hielt sich Zeller streng an<br />
die von der Regierung gewiesene Richtung; nur sein gründliches Wissen<br />
und seine Vorsicht im Gebrauche der Begriffe unterschied sein Buch von<br />
den gleichzeitigen Leistungen der Journalisten. Ein Auszug wird uns darüber<br />
belehren, wie der liberale Protestantismus und die gelehrte Welt<br />
damals über den Kulturkampf dachten.<br />
Recht weit wird ausgeholt: im Altertum konnten Staat und Götterdienst<br />
zusammenfallen, doch diese Einheit läßt sich durch kein künstliches<br />
Mittel wieder herstellen; das Christentum will universell sein, kann nicht<br />
mehr in einem Staate aufgehen, der moderne Staat wiederum, der die<br />
Gewissensfreiheit angenommen hat, kann nicht in einer Kirche aufgehen.<br />
Volle Einheit von Staat und Kirche war freilich auch im Christentum<br />
noch möglich, wenn in der sogenannten Theokratie Gott persönlich, d. h.<br />
durch seine Priester, die Herrschaft über die Menschen ausübt. Schon bei<br />
diesem Punkte verrät sich, daß es dem Schreiber nicht um volle Geistesbefreiung<br />
zu tun ist; die katholischen Ansprüche werden hart als Täuschung<br />
oder Betrug zurückgewiesen, die protestantischen Ansprüche auf Überwachung<br />
wenigstens des religiösen Lebens für niedere Kulturzustände<br />
gebilligt. Auch die Form der Einheit, wie sie sich im protestantischen Staatskirchentum<br />
ausgebildet hat, wird nicht grundsätzlich abgelehnt. So spricht<br />
sich Zeller fast ganz im Sinne Bismarcks und des Kaisers Wilhelm für eine<br />
gewisse Trennung von Staat und Kirche aus, doch so, daß dem Volke<br />
die Religion erhalten bleibe. Welchem Teile des Volkes? Welche Religion?<br />
Zeller will es just in diesem offiziösen Buche nicht zugestehen, wie Strauß<br />
etwa zur gleichen Zeit: daß "wir" keine Christen mehr sind, daß „wir"<br />
eigentlich keine Religion mehr haben. Die religiösen Genossenschaften<br />
sollen nicht als Privatvereine behandelt werden, wie das doch in den<br />
Vereinigten Staaten von Nordamerika möglich ist; die mächtigen alten<br />
Kirchen sollen mehr Rechte haben als die armen kleinen Konventikel.<br />
(Man könnte Zellers Lehre auf das traurige Sprichwort zurückführen:<br />
Die kleinen — Betrüger und Religionsstifter — hängt man, die großen<br />
läßt man laufen.) Die großen Kirchen dürfen Herren im eigenen Hause<br />
bleiben, in der Kirchenlehre; sie dürfen ihre Dogmen auch ändern, aber<br />
nicht ohne Einschränkung: das Dogma von der unbefleckten Empfängnis<br />
gehe den Staat nichts an, die Unfehlbarkeit widerspreche der Vernunft<br />
nicht mehr und nicht weniger, sei aber eine Gefahr für den Staat. Zeller<br />
sagt uns aber nicht, wie weit der Staat in der Abwehr dieser Gefahr gehen<br />
dürfe. Ebenso frei wie in der Kirchenlehre sei eine anerkannte Religionsgesellschaft<br />
in den Einrichtungen ihres Gottesdienstes und in der Organisation<br />
ihrer Verfassung und obersten Leitung; nicht ganz so frei wie einst