Band 4 - m-presse
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246 Viertes Buch. Siebenter Abschnitt<br />
sinnigen Ankläger wahrscheinlich mit gutem Rechte begründet werden<br />
können; so wie Wally aber von Gutzkow geschildert wurde, war ihr Gefühl<br />
eher Verzweiflung als Zweifel an Gott; und von gesunder Sinnlichkeit<br />
keine Spur: ihre Gewissensehe mit Cäsar wild, aber ganz platonisch. „Sie<br />
litt an einem religiösen Tick, an einer Krankheit, die sich mehr in hastiger<br />
Neugier als in langem Schmerze äußerte." Es war eine metaphysische<br />
Krankheit. In ihrem Tagebuche — Gutzkow hat es nach dem Muster von<br />
Rahel geschrieben — balgen sich atheistische und deistische Gedanken. Das<br />
zwanzigjährige Mädchen hat so viel gelesen wie der vierundzwanzigjährige<br />
Alleswisser Gutzkow. Die Wolfenbüttler Fragmente versetzen sie in die<br />
beste Laune; der Haß des Verfassers gegen die Priester steckt sie an. „Aus<br />
jenem kleinen christlichen Senfkorn ist ein ganzes Senfpflaster geworden,<br />
das der gesunden Vernunft die brennendsten Blasen zieht." Aber dann<br />
ist Wally doch nicht von Reimarus befriedigt; die heutige wissenschaftliche<br />
Bildung könne sich mit einer Naturreligion kaum noch begnügen. Sie quält<br />
sich mit den Mysterien des Christentums. "Rahel war eine Jüdin. Was<br />
hatte diese Frau nötig, sich mit Gedanken zu quälen?" Auch in der letzten<br />
Zeit, zum Selbstmorde bereit, wird sie noch von religiösen Sophismen<br />
geplagt. Und im Tode liegt sie nicht lächelnd und ruhig da, sondern mit<br />
krankhafter Verzerrung ihres schönen Antlitzes und einem Ausdrucke der<br />
Verzweiflung in den starren Augen.<br />
Es ist kein Zufall, es liegt im Plane Gutzkows, es steht in Zusammenhang<br />
mit der neuen Frauenemanzipation, durch die die Welt wieder einmal<br />
erlöst werden soll, daß das Weib an ihrem religiösen Zweifel zugrunde geht,<br />
die ihr nahestehenden Männer (außer Cäsar noch einer, der das Christentum<br />
eine Latwerge aus hundert Ingredienzien nennt) jedoch sich in ihrem Unglauben<br />
sehr behaglich fühlen.<br />
Worüber Wally nicht hinweg kann, das ist das Glaubensbekenntnis<br />
Cäsars, das — ich wiederhole — im Romane ein breites Einschiebsel ist, in<br />
dem dichterischen Plane ein Motiv mehr, im Kopfe Gutzkows aber wahrscheinlich<br />
das Stück, um dessentwillen er den Roman schrieb. Wenn ich<br />
Geringes mit dem Wertvollsten vergleichen darf: wie Lessing seinen<br />
"Nathan" schrieb, um die Parabel von den drei Ringen wirksam von seiner<br />
alten Kanzel vortragen zu dürfen. Das Verhältnis ist also ungefähr<br />
folgendes: was in Gutzkow dichtet, was eigentlich nur der Zeitgeschmack<br />
ihm diktiert, das ist die religiöse Sehnsucht Wallys, an der sie stirbt; was<br />
in Gutzkow denkt, das spricht sich in seinem Glaubensbekenntnisse aus.<br />
Denn Cäsar ist Gutzkow, wie er vor dem Spiegel steht.<br />
"Religion ist Verzweiflung am Weltzweck." Bei steigender Aufklärung<br />
werde jede positive Religion unmöglich; in den dogmatischen<br />
Gutzkows "Wally" 247<br />
Systemen der Theologen gebe es Kapitel, die sich besser für Grimms<br />
Kindermärchen oder für Tausendundeine Nacht schicken würden. In diesen<br />
Unförmlichkeiten tiefsinnige Keime einer urweltlichen Offenbarung zu<br />
finden, das heiße von einer kindischen Ansicht eine ernsthafte Anwendung<br />
machen. Das Heidentum wird sehr hoch, Jesus Christus ziemlich tief<br />
gestellt: er sei der edelste, aber nicht der größte Mensch gewesen, gefallen<br />
sei er als ein Opfer seiner falschen Berechnung und innerlichen Unklarheit.<br />
Jetzt sei die Kirche eine neue Art von Heidentum. "Man hatte Jesus gegen<br />
seine Absicht zum Stifter einer Religion machen wollen. Jesus hatte sich<br />
gerächt . . . Das Christentum war nun doch ein Reich von dieser Welt<br />
geworden." (In dieser ganzen Kritik Jesu und seiner Jünger gibt Gutzkow<br />
nur den langgeplanten Auszug aus der „Schutzschrift", die Reimarus,<br />
tapfer in dem Verstecke der Anonymität, just hundert Jahre vorher niederzuschreiben<br />
angefangen hatte.) Die Reformation habe für das Christentum<br />
alles getan, aber nichts für die Wahrheit und den gesunden Menschenverstand.<br />
Der Deismus, den Gutzkow von der bewunderten Naturreligion<br />
zu unterscheiden scheint, sei bald zu frivol, bald zu witzig gewesen, um<br />
dem Christentum merklichen Abbruch zu tun. (Der englische Deismus war<br />
weder frivol noch witzig.) Schöpferisch wäre erst die Negation der Revolution.<br />
Der Supranaturalismus der deutschen Philosophie mache aus<br />
seinen Ahnungen ein System; einige seien freidenkerisch, aber niemand habe<br />
den Vorhang der Lüge weggerissen. Hegel helfe noch am weitesten, weil<br />
er das Christentum historisch verstehen lehrt, es in die Vergangenheit rückt.<br />
Und nach allen diesen Radikalismen aus dem 18. und dem 19. Jahrhundert<br />
endet das Glaubensbekenntnis Cäsar-Gutzkows mit einem ungewollten<br />
Widerspruch. Was als neuer Sozialismus aus Frankreich herübergekommen<br />
sei, wird gröblich beurteilt: Saintsimonismus kränkle an der<br />
Philosophasterei, wie Lamennais am Katholizismus. Also wird der neueste<br />
Versuch, dem politischen, unchristlichen, aber nicht gottlosen Zeitalter<br />
etwas wie eine Religion zu bieten, abgelehnt. Aber auch Cäsar-Gutzkow<br />
möchte nicht als verneinender Geist erscheinen, möchte irgendeine Religion<br />
der Zukunft erfinden oder vortäuschen, und wenn er sie sich aus den Schreibfingern<br />
saugen müßte. „Wir werden keinen neuen Himmel und keine neue<br />
Erde haben; aber die Brücke zwischen beiden, scheint es, muß von neuem<br />
gebaut werden.<br />
In seiner Verteidigungsschrift "Appellation an den gesunden Menschenverstand<br />
(1835) hat Gutzkow den gleichen Weg der Unwahrhaftigkeit<br />
angeschlagen, wie etwa im vorhergehenden Jahrhundert der viel mächtigere<br />
Voltaire: ein Angriff auf die Kirche sei nicht im entferntesten bezweckt<br />
worden. Doch ein wesentlicher Unterschied ist nicht zu übersehen. Das