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Band 4 - m-presse

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242 Viertes Buch. Siebenter Abschnitt<br />

Glaubens getreten zu sein, Goethes Faust an die Stelle der Evangelien.<br />

Auch Gutzkow ging nicht von Theologie aus, sondern von Literatur. George<br />

Sand hatte es ihm angetan, besonders durch ihren faustischen Roman<br />

"Lelia". Und da gab es in dem heißen, an Wein, Getreide und Verwegenheit<br />

gesegneten Jahre 1834 gleich drei literarische Ereignisse, die zu verkünden<br />

schienen, daß auch in Deutschland, wo bis dahin das Lesen des<br />

Faust allen Mädchen verboten war, das neue Weib erwachte. In diesem<br />

einen starken Jahre 1834 (der Schauplatz war Berlin, sogar das gleiche<br />

Viertel von Berlin; Proelß hat auf diesen Umstand in seinem "Jungen<br />

Deutschland" hingewiesen) schrieb Varnhagen die Vorrede zu dem Buche<br />

der Rahel, schrieb Bettina die Einleitung zu ihrem philologisch ungenauen<br />

und doch so echten und schönen Briefwechsel mit Goethe, stach sich Charlotte<br />

Stieglitz den Dolch ins Herz.<br />

Es wäre die übliche Selbsttäuschung der konstruierenden Literaturgeschichte,<br />

wollte ich einen einheitlichen Gedanken in den Quellen zu einer<br />

Schrift entdecken, die selbst keine Einheit besitzt. "Wally die Zweiflerin"<br />

ist keine Dichtung aus dem Vollen; und die drei Frauen — außer einigen<br />

anderen, unter ihnen ein Mädchen, das Gutzkow lieb hatte —, die den<br />

Dichter angeregt hatten, sollen nicht auf die gleiche Formel gebracht werden.<br />

Nicht einmal religiöse Freidenkerei war allen gemeinsam. Bettina verkündete<br />

die unchristliche pantheistische Religiosität des "letzten Heiden",<br />

Rahel stammte aus dem Kreise der aufgeklärten Berliner Juden und war<br />

Indifferentistin;*) Charlotte Stieglitz hatte von ihren Backfischjahren her<br />

eine Neigung zum Pietismus behalten. In der Zeit seiner Denunziationswut<br />

richtete Menzel seine Angriffe bezeichnenderweise auch gegen Bettina,<br />

Rahel und Charlotte. Nur in einem Punkte freilich, der die Katastrophe<br />

in der Fabel des Romans bilden sollte, war eine gewisse Übereinstimmung<br />

zwischen den drei Frauen: in der Frage, ob der Selbstmord gestattet oder<br />

gar heroisch sei. Bettina, Goethes „Kind", des Schöpfers von Werther<br />

und Ottilie, war allerdings zu gesund und lebenslüstern, um vom Selbstmorde<br />

nicht als von einem Fürwitz und einer Schwäche zu sprechen; aber<br />

auch sie hatte das Buch über ihre Freundin geschrieben, die Günderode,<br />

eine Selbstmörderin. Rahel hatte den Freitod ohne jeden Vorbehalt gerechtfertigt;<br />

"ich mag es nicht, daß die Unglückseligen bis auf die Hefe<br />

leiden." So schrieb sie nach dem Selbstmorde ihres Freundes Heinrich<br />

*) Der Einfluß der ganz areligiösen Rahel und ihres (hinter hoffähigen Formen)<br />

eigentlich cynischen Gatten kann nicht leicht überschätzt werden; mit durch<br />

sie beide ist die Berliner Gesellschaft so "verwegen" geworden, wie Goethe sie fand.<br />

Es war mehr als bloß theoretische Emanzipation der Sinne, es war gottlose, diesseitige<br />

Sinnenfreudigkeit, wenn Rahel in immer neuen Wendungen ihre Briefe ausklingen läßt<br />

in die unchristliche Seligpreisung: "Seid gepriesen, liebe Sinne!"<br />

Gutzkows „Wally" 243<br />

von Kleist; und die göttliche Güte werde nicht gerade nach einem Pistolenschusse<br />

ihr Ende erreicht haben; "ich freue mich, daß mein edler Freund das<br />

Unwürdige nicht duldete." Ähnlich hatte sie schon den Schlachtentod des<br />

anderen Freundes, des Prinzen Louis Ferdinand, als einen freiwilligen<br />

Tod gepriesen, den er gesucht hätte. Vollends Charlotte hatte die Tat<br />

getan, anstatt so oder so darüber zu grübeln oder zu schreiben; an ihrem<br />

Grabe hatte der Pastor schablonenhaft von der Verirrung eines krankhaften<br />

Gemüts geredet. Auch brachte man schon damals Charlottens Tat<br />

mit Rahels Ketzereien über den Selbstmord in inneren Zusammenhang.<br />

Die Tat Charlottens ist seit achtzig Jahren immer wieder besungen<br />

worden als ein erhabener Opfertod für den geliebten Gatten, den schäbigen<br />

Dichterling, Oberlehrer und Bibliothekar Stieglitz. Diese Legende hat sich<br />

im Widerspruche zu allen Zeugnissen bis zur Stunde erhalten. Die Legende<br />

ist von Theodor Mundt aufgebracht worden, dem Mitgliede des<br />

jungen Deutschland, dem Hausfreunde des Ehepaares Stieglitz, dem Manne,<br />

der die unglückliche Charlotte mit einiger Leidenschaftlichkeit geliebt hat;<br />

Mundt bildete diese Legende aus, um seine Freundin mit einer Märtyrerkrone<br />

zu schmücken, vielleicht auch in ehrlicher Absicht, um aus dem Tode der<br />

Frau noch das Beste für den "Witwer" herauszuholen. In Wahrheit wird<br />

wohl die Ehe Charlottens ein anderes Martyrium gewesen sein: die Verbindung<br />

einer geistig nicht hervorragenden, aber hochstrebenden, seelenvollen<br />

und charaktervollen Frau mit einem eingebildeten, gemeinen und<br />

selbstsüchtigen Philister. Der Literarhistoriker muß sich mit Vermutungen<br />

begnügen; der Dichter der "Nora" und der „Hedda Gabler" hätte die<br />

Psychologie dieser Ehe entwirren können. Wie das schwärmerische Mädchen<br />

sich mit dem Studenten Stieglitz verlobte, dem seine Freunde eine große<br />

Dichterzukunft voraussagten; wie die Dichterbraut demütig zu ihrem<br />

Heinrich aufblickte und fünf Jahre wartete, bis er sein Staatsexamen<br />

gemacht, eine Anstellung erhalten hatte und sie heiraten konnte; wie er ihr<br />

brieflich und mündlich in wohlgesetzten Worten das Opfer vorhielt, das er<br />

ihr brächte; wie er, unbefriedigt von seinem Berufe und unbefriedigend in<br />

seinen schriftstellerischen Leistungen, dazu körperlich kränkelnd, ihr die Schuld<br />

an seinem verpfuschten Leben aufbürdete und täglich unerträglicher wurde;<br />

wie Charlotte die Überzeugung gewinnen mußte, sie wäre ihm eine Last,<br />

und wie er sie, fast verbrecherisch, in diesen Vorstellungen zu bestärken<br />

suchte; wie sie in ihrer Liebe und Güte, weil sie sich doch für unheilbar krank<br />

hielt, zu dem Entschlusse kam, lieber mit einem Schlage zu sterben, anstatt<br />

die gegenseitige Quälerei zu verlängern. Ihr rührend liebevoller Abschiedsbrief<br />

enthält kein Wort, mit dessen Hilfe man die Legende Mundts<br />

bekräftigen könnte. Wenn man richtig liest. Sie mache keine Vorwürfe;

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