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Band 4 - m-presse

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280 Viertes Buch. Siebenter Abschnitt<br />

schwangeren Frauen etwa schöne Bildwerke vorhält, dem allezeit trächtigen<br />

Nationalgrundstock stets etwas Besseres zeigen, als er schon ist."<br />

Um diese Zeit hatte der vierzigjährige Dichter bereits, nach stürmischer<br />

Beteiligung an den Kämpfen der Demokratie, seinen Frieden gefunden,<br />

hatte das Vaterland, das er innig liebte, über den Kantönligeist und über<br />

den Parteigeist stellen gelernt. Im Jahre 1861 bewarb er sich einfach<br />

und stolz um den Posten des ersten Staatsschreibers von Zürich und erhielt<br />

die Bestallung. Vielleicht wollte man den inzwischen in engen Kreisen<br />

Deutschlands hochgeschätzten Dichter auszeichnen und seine "scharfe"<br />

Feder nützen, vielleicht wollte man auch den gefürchteten Demokraten<br />

fesseln.<br />

In diesem Amte hatte Keller, neben allerlei Kleinkram, auch die<br />

schon erwähnten Bettagsmandate zu stilisieren. Solche Mandate wurden<br />

von allen Kanzeln des Kantons Zürich wie Gebete verlesen; Inhalt und<br />

Ton war durch das Herkommen vorgeschrieben. Von den fünf Mandaten,<br />

die Keller 1862 bis 1872 fertigstellte, wurde nur das erste vom Rate abgelehnt;<br />

es ist schwer zu sagen, ob Keller sich erst langsam in die kirchliche<br />

Aufgabe schickte oder ob der Rat sich an die leise verweltlichte Form des<br />

Dichters gewöhnte. Das nicht genehmigte Schriftstück von 1862 versucht<br />

es bereits ganz geschickt, das Herkommen zu wahren und fast wie in einem<br />

Hirtenbriefe religiöse Begriffe zu verwenden; Gott wird der Herr aller<br />

Völker genannt, der Gott der Liebe und der Versöhnung natürlich, und<br />

ein Dank für die gesegnete Ernte fehlt auch nicht. Doch wird mitunter<br />

der Pferdefuß des Feuerbachianers ein wenig sichtbar. Nicht in der Freude<br />

über die eben vollzogene Juden-Emanzipation; die hätte sich noch mit<br />

einem aufgeklärten Protestantismus vertragen. Eher schon da, wo Keller<br />

einen Redner am frohen Volksfeste anführt, der sagte, der große Baumeister<br />

der Geschichte habe den Bundesstaat der Schweiz als ein kleines<br />

Baumodell aufgestellt, und etwas spöttisch hinzufügt, derselbe Meister<br />

könne das Modell wieder zerschlagen. Am deutlichsten da, wo Keller den<br />

kirchlichen Bettag zu einem Gewissenstage umbiegt und in den Schlußworten<br />

sich geradezu an die Konfessionslosen als an seine Gesinnungsgenossen<br />

wendet. Es klingt wie ein Bekenntnis: "Möge auch der nicht<br />

kirchlich gesinnte Bürger im Gebrauche seiner Gewissensfreiheit nicht in<br />

unruhiger Zerstreuung diesen Tag durchleben, sondern mit stiller Sammlung<br />

dem Vaterlande seine Achtung beweisen." Die übrigen Mandate,<br />

die Gnade fanden vor den Augen der Züricher Regierung, sind nicht eigentlich<br />

frömmelnder; man kann sie, wenn man will, deistisch und sogar rationalistisch<br />

auslegen, und der Verfasser benützt die Gelegenheit, seinem lieben<br />

Schweizervolke und auch den Geistlichen erziehliche Wahrheiten zu sagen;<br />

Bettagsmandate 281<br />

aber hie und da, besonders im Eingange des Mandats von 1863, des ersten,<br />

das genehmigt wurde, ist der Ton christelnd und mag dem Staatsschreiber<br />

nicht ganz leicht gefallen sein.<br />

Während Keller so dem Vaterlande diente und mit seinen seltenen<br />

Gaben in Deutschland eine wachsende Gemeinde gewann, hatte sich die<br />

Schweiz zu dem starken und geachteten Einheitsstaat entwickelt, der in<br />

dem neuen Europa wieder eine Rolle spielte. Keller war mit diesem Zustande<br />

ganz zufrieden und für neue demokratische oder gar sozialdemokratische<br />

Forderungen nicht mehr zu haben. Persönliche Reibereien mit<br />

den lärmenden Führern seiner eigenen ehemaligen Partei bestimmten<br />

ihn, auch weil er müde geworden war, 1876 seinen Abschied zu nehmen.<br />

Der magister Helvetiae wollte von einer konsequenten Demokratie nichts<br />

wissen. Aber in den Fragen, die jenseits der gemeinen politischen Kämpfe<br />

die Kirche und die Schule betrafen, bekannte sich Keller in seinem Alterswerke,<br />

dem erziehlichen "Martin Salander", zu einer Freiheit, die er vorher<br />

so offen niemals vorgetragen hatte. Hatte er sich schon in seinem<br />

ersten Bettagsmandat mit an die Gewissensfreiheit der nicht kirchlich gesinnten<br />

Bürger gewandt, die Unchristen also als gute Bürger anerkannt,<br />

so gedachte er jetzt (er führte es nur teilweise aus), ein Beispiel von ernster<br />

Ethik der Nichtkirchlichen aufzustellen. Keller hat keine kirchlichen Interessen<br />

mehr und blickt wohl auf die Kämpfe um Strauß und Feuerbach<br />

als auf Jugendeseleien zurück. Um so lebhafter beschäftigt ihn als einen<br />

echten Schweizer die Reform der Schule. Und da ist von Religion so wenig<br />

die Rede, daß man aus dem Nichterwähnen wohl auf den Wunsch einer<br />

gründlichen Trennung von Staat und Kirche schließen darf. Die jungen<br />

Leute sollen bis zu ihrem zwanzigsten Jahre nicht aus der Schule entlassen<br />

werden; sie sollen in Mathematik, in Physiologie, in Landeskunde und<br />

Geschichte unterrichtet, im Turnen, Schießen und Singen geübt und zuletzt<br />

staatsbürgerlich erzogen werden. Kein Wort über die Unterweisung in<br />

einer Religion.<br />

So ausführlich ich bei der Inanspruchnahme Gottfried Kellers für<br />

die Geschichte der Geistesbefreiung gewesen bin, ich habe noch ein Wort<br />

hinzuzufügen über die Tatsache, daß da wieder ein Dichter freier geworden<br />

war als die Philosophen seiner Werdezeit. Von den Schriftstellern aus den<br />

Jahren des jungen Deutschland und des Materialismusstreites kann uns<br />

das nicht wundern; vertraten sie doch die religiöse wie die politische Freiheit.<br />

Keller aber war zwar eine sehr lehrhafte, doch keine polemische<br />

Natur, kam vom Weisen und vom Dichter Goethe her und warf die Fesseln<br />

der Feuerbachschen Schule bald wieder ab. Das war seit vielen Jahrhunderten<br />

nicht dagewesen, daß die Dichter verwegenere Gedanken vortrugen

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