Band 4 - m-presse
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272 Viertes Buch. Siebenter Abschnitt<br />
lernen muß. Sie sucht ihr Heil bei wirklich frommen, bei echten Christen,<br />
einfältigen Pietisten. Da erfährt sie, daß die beiden guten Frauensleute,<br />
zu denen sie als Gottsucherin geflüchtet ist, wieder nur nachplappern, "wie<br />
zwei Kinder, welche einem dritten das soeben von der Großmutter gehörte<br />
Märchen erzählen" (S. 330). So findet Justine den Weg zu dem ganz<br />
freien Jukundi zurück, der seinen Unglauben so zusammenfaßt: "Wenn<br />
sich das Ewige und Unendliche immer so stillhält und verbirgt, warum<br />
sollten wir uns nicht auch einmal eine Zeit ganz vergnügt und friedlich<br />
stillhalten können? Ich bin des aufdringlichen Wesens und der Plattheiten<br />
aller dieser Unberufenen müde, die auch nichts wissen und mich doch immer<br />
behirten wollen" (S. 339). Und auf die Frage, was man nun mit der<br />
Religion oder mit der Kirche machen wolle, antwortet er schneidend:<br />
„Nichts."*)<br />
Und so glaube ich in meinem Rechte zu sein, wenn ich den Seldwyla-<br />
Entdecker, der selber ein heimlicher Seldwyler war, ein Antiphilister, selber<br />
ein Kauz, wieder für meine Lehre in Anspruch nehme: für die Einkehr in<br />
eine gottlose Mystik. Er war in jungen Jahren, als ein Schüler Feuerbachs,<br />
ein Vergotter "des Menschen" gewesen, gar nicht so weit von dem<br />
verlogenen Pfarrer, der selbstverfaßte, pantheistisch klingende Sterbegebete<br />
aufsagte und neue religiöse Werte und Worte hinnahm; auf der<br />
Höhe seines Schaffens fand er dann selbst, ohne viel von dem Cusaner<br />
zu wissen, aus eigener Kraft den Weg zu der docta ignorantia.<br />
Kellers Ent- Wenn diese religiöse Freiheit die letzte Meinung Kellers war, so war<br />
wicklung sie gewiß auch die Weltansicht, die seiner Persönlichkeit am reinsten entsprach.<br />
Ein so kernhafter Mann wie Keller wird immer, was er war. Dennoch<br />
möchte ich wenigstens mit einigen Zügen die religiöse Entwicklung,<br />
die bis zu der Novelle vom „Verlorenen Lachen" führte, darzustellen suchen:<br />
wie Gottfried Keller im Strome der Zeit naturgemäß zu Feuerbach gelangte<br />
und wie er sich aus eigener Kraft ganz befreite. Es ist da besonders<br />
hervorzuheben, daß Keller, unter allen deutschen Dichtern von Rang viel<br />
*) Nach den Untersuchungen von Ermatinger und Kriesi wissen wir jetzt, daß der<br />
Dichter an ganz bestimmte Erlebnisse dachte, da er als die letzte der Seldwyler-Geschichten<br />
"Das verlorene Lachen" schrieb. Die wilde demokratische Bewegung aus der zweiten<br />
Hälfte der sechziger Jahre, die ihn oft genug geärgert hatte, war sein geschichtliches Modell.<br />
Wie er die einzelnen Menschen und Geschehnisse typisch umformte, für seine künstlerischen<br />
und lehrhaften Zwecke, das ist für seine Arbeitsweise recht aufschlußreich, gehört aber<br />
nicht hierher. Seine Absicht wurde wieder einmal in Deutschland schneller und richtiger<br />
gefaßt als in seiner Heimat. Sein Spott über die aufgeklärten Theologen wurde ihm dort<br />
sehr übel genommen. Er schreibt 1875 an Hettner, in Zürich stehe die Immanenztheologie<br />
in Blüte und habe großen Zulauf, seine Novelle mache darum viel Redens. "Man gab mir<br />
sogar zu verstehen, ich treibe mit dergleichen nur das Volk den Orthodoxen in die Hände usw.;<br />
über das Poetische oder Literarische aber hörte ich kein Wort."<br />
Kellers Entwicklung 273<br />
leicht der einzige bewußte Erzieher, in politischen Fragen mit den Jahren<br />
immer konservativer wurde (ein konservativer Republikaner selbstverständlich),<br />
in religiösen Fragen aber immer unabhängiger, bis etwa auf die von<br />
ihm verfaßten Bettagsmandate, die jedoch nicht Äußerungen seiner Persönlichkeit<br />
waren, sondern nur Arbeiten des Staatsschreibers, des politischen<br />
Beamten.<br />
Keller war noch nicht fünfundzwanzig Jahre alt, als er sich, zum ersten<br />
Male aus Deutschland heimgekehrt, in die politische Bewegung des Kantons<br />
Zürich stürzte. Unselbständig, liberal bis zum Radikalismus, Freischärler<br />
und Feind der Jesuiten, war er dennoch durchaus nicht unchristlich, nicht<br />
atheistisch; er machte sogar mit, als man sich in Zürich gegen Hegel und<br />
Feuerbach, Ruge und Strauß entrüstete; doch schon bald darauf stellte<br />
er der Frömmigkeit, die sich vor tausend Jahren für jeden vollkommenen<br />
Helden schickte, die freisinnige Aufklärung gegenüber, ohne die man jetzt<br />
kein ganzer Mann sein könne. Er bewunderte Herwegh und ahmte ihn<br />
nach. Unklar wird er schon damals, härter als der Dichter, der die Kreuze<br />
aus der Erde reißen wollte, dem Christentum feindlich gegenübergestanden<br />
haben, so feindlich, als es seine eigentlich nicht zum Umsturze geneigte<br />
Natur zuließ. Im Herbste des Revolutionsjahres 1848 ging er zum zweiten<br />
Male nach Deutschland, nach Heidelberg, mit einem Stipendium der<br />
Züricher Regierung, beinahe dreißig Jahre alt. Hier lernte er Feuerbach<br />
kennen. Und schon zu Anfang 1849 will er tabula rasa machen ("oder es<br />
ist vielmehr schon geschehen") mit allen bisherigen religiösen Vorstellungen,<br />
um das Niveau Feuerbachs zu erreichen. Er schreibt in diesem Briefe<br />
(vom 28. Januar 1849): "Die Welt ist eine Republik, sagt Feuerbach, und<br />
erträgt weder einen absoluten noch konstitutionellen Gott. Ich kann einstweilen<br />
diesem Aufruhr nicht widerstehen. Mein Gott war längst nur eine<br />
Art von Präsident oder erstem Konsul, welcher nicht viel Ansehen genoß;<br />
ich mußte ihn absetzen." Wirklich hatte Keller schon vor seiner Fahrt nach<br />
Heidelberg die Halbheit der deutschen Liberalen durchschaut, die überall<br />
Kompromisse schlossen (mit der Monarchie und mit dem Unsterblichkeitsglauben),<br />
die mit salbungsvoller Beredsamkeit Atheismus, Demokratie,<br />
Anarchie und Nihilismus in einen Tiegel warfen.<br />
Der Einfluß Feuerbachs auf Keller ist so bezeichnend für den Stand Keller und<br />
der Gottlosigkeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts, daß ich näher auf diese<br />
Beziehungen eingehen möchte; die Quellen fließen reichlich, man braucht<br />
nur die Briefe und den Roman Kellers richtig zu lesen. Dabei will ich<br />
übergehen oder doch nur flüchtig erwähnen, daß eine Liebesgeschichte<br />
zwischen Keller und Feuerbach Fäden spann, die sich leicht zu einer Novelle<br />
knüpfen ließen: Johanna Kapp, die Tochter des liberalen Politikers und