Band 4 - m-presse
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300 Viertes Buch. Achter Abschnitt<br />
schaft und Religionsphilosophie etwa zu sagen hatte, daß ich manches<br />
hätte beiseite lassen können, wenn ich nur die Lebensarbeit des prachtvollen<br />
Mannes früher und genauer gekannt hätte. Was uns trennt, ist<br />
nur ein Aufklebezettel, eine Marke; er nannte sich einen Konservativen,<br />
ich halte mich für einen geistigen Rebellen, aber auch Lagarde war ein<br />
Rebell. Der Fünfzigjährige hat einen Aufsatz geschrieben, "Die Religion<br />
der Zukunft", aus welchem hervorgeht, daß Lagarde wieder einmal ein<br />
unchristlicher Deist war, aber auf einem lichteren und höheren Standpunkte<br />
als die englischen Deisten, daß ich ihn für das Bekenntnis zu einer<br />
gottlosen Mystik in Anspruch nehmen darf, wenn er auch selbst die Bezeichnung<br />
"gottlos" gröblich abgelehnt hätte.<br />
Ich brauche wohl nicht besonders zu bemerken, daß es in der reinen<br />
Höhenluft wirklicher Weltanschauungsfragen nicht darauf ankommen kann,<br />
daß Lagarde seine starke Persönlichkeit nebenbei und gelegentlich auch<br />
gegen Bismarck, gegen die Juden, gegen die neue Zeit austobte; auch<br />
wo ich die Richtung der Schläge bedaure, darf ich ihre Wucht und ihre<br />
Schönheit lieben.<br />
"Die Religion der Zukunft" (1878 veröffentlicht) wäre ein genügender<br />
Beweis dafür, daß Lagarde kein Protestant mehr war, keiner Kirche<br />
mehr zugehörte; er ist ja übrigens ausdrücklich aus seiner Landeskirche<br />
ausgetreten und hat sich jede geistliche Amtshandlung an seinem Grabe<br />
verbeten. Als ein Konservativer hält sich Lagarde natürlich für einen<br />
Christen, für einen konfessionslosen Christen, so ungefähr für den Bekenner<br />
einer unbestimmten deutschen Religion. Sieht man aber genauer zu,<br />
so war Lagarde ein ebensolcher Unchrist, wie zweihundert Jahre vor<br />
ihm die ehrlichsten englischen Deisten.<br />
Er glaubt nicht an die Bibel, schon gar nicht an das Alte Testament;<br />
was man zumeist als einen Vorzug des Monotheismus preist, das ist ihm<br />
Götzendienst. Über die Religion der ältesten Menschen könne uns nur<br />
die Sprachwissenschaft belehren, und Lagarde war nicht nur auf seinem<br />
Gebiete, dem der orientalischen Sprachen, ein kühner Neuerer. Wüßten<br />
wir mehr von der Geschichte der Urzeit, so würden wir keinen so großen<br />
Unterschied sehen zwischen der Urzeit und der Gegenwart. Religionsstifter<br />
im wörtlichen Sinne — übrigens kann Lagarde den Ausdruck nicht<br />
leiden — hat es niemals gegeben; auch sie sind nicht vom Monde gefallen,<br />
sondern erwachsen in ihrem Volke und in ihrer Zeit. Das Christentum<br />
ist seit der Reformation in stetigem Verschwinden. Also: der Konservative<br />
der Bismarckzeit kommt zu dem gleichen Ergebnisse wie ihr alles annihilierender<br />
Philosoph des Unbewußten.<br />
Bismarck 301<br />
Bismarck selbst hat sich, nur wenige Wochen nach dem Tage von Se Bismarck<br />
dan, in einem wer weiß für welche Ohren berechneten Tischgespräche<br />
einen „strammgläubigen" Christen genannt; oft und noch in Hans Blums<br />
"Fürst Bismarck und seine Zeit" ist dann die Christlichkeit des ersten Kanzlers<br />
gerühmt und nur sein freier evangelischer Standpunkt hervorgehoben<br />
worden. Aber weder vom Vater noch von der bürgerlichen Mutter hatte<br />
er Zugehörigkeit zu einer Konfession geerbt; ein Bismarck hatte sogar den<br />
durchaus unchristlichen, mindestens socinianischen, nahezu atheistischen Zopfprediger<br />
Schulz in Schutz genommen. Der Schöpfer von Deutschlands<br />
Einheit gehörte niemals zu den Frommen, betrat nur ungern und sehr<br />
selten eine Kirche; wohl war er seit seinem Bunde mit Johanna nicht<br />
mehr der tolle Bismarck, doch er trug das Christentum nur wie das selbstverständliche<br />
anständige Kostüm seines Lebenskreises, wie etwa ein Engländer<br />
des Abends nicht ohne Frack ausgeht. Nur daß er, der jetzt für religiöse<br />
Grübeleien keine Zeit mehr hatte, für seinen inneren Frieden eine<br />
unklare "Religion" mehr vorfand als erfand, die aus einem ketzerischen,<br />
herrenhutischen Urchristentum und der staatsrechtlichen Kirchenfeindschaft<br />
Spinozas wunderlich individuell gemischt war. Auf Bismarcks — natürlich<br />
nicht zunftgelehrte — Abhängigkeit von Spinoza will ich noch zurückkommen;<br />
hier nur die eine Bemerkung, daß Schleiermacher, der Spinozist,<br />
den Knaben eingesegnet hatte und daß Schleiermacher heute noch im<br />
Verdachte steht, ein ganz gottloser Unchrist gewesen zu sein.<br />
Hat man sich erst von den Schlagwörtern der beiden Epochen befreit,<br />
so erkennt man, wie ähnlich das Zeitalter Bismarcks dem Zeitalter Friedrichs<br />
war, wie Bismarck den aufgeklärten Despotismus fortsetzte. Selbstverständlich:<br />
mit den durch die Umstände geforderten formalen oder<br />
sprachlichen Änderungen. Zwischen dem Regierungsantritte Friedrichs<br />
und dem Regierungsantritte Bismarcks lagen ungefähr hundertzwanzig<br />
Jahre, und in deren Mitte der Beginn des neuen Jahrhunderts, welches<br />
die Folgen der großen Revolution doch ein wenig zum Ausdrucke gebracht<br />
hatte: Sozialismus beim vierten Stande, Entchristlichung beim<br />
dritten Stande und ein verdünnter Konstitutionalismus im Staate. Drei<br />
Nachfolger Friedrichs waren unfähige Monarchen gewesen, der erste<br />
weniger wegen seiner Geilheit, als wegen seiner Dummheit, der zweite,<br />
unter Friedrichs Augen erzogen, wegen Unwissenheit und Willensschwäche,<br />
der dritte wegen pathologischer Narrheit. Erst Wilhelm I., Bismarcks<br />
"Herr", war klug und bescheiden genug, den Scheinkonstitutionalismus<br />
zu benützen und seinem politischen Ratgeber, nach dessen äußeren Erfolgen,<br />
die alleinige Leitung von Preußen und Deutschland zu überlassen.<br />
Für eine Beschäftigung mit letzten Fragen war des alten Kaisers einfacher