Band 4 - m-presse
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404 Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />
vorbei ist mit der Einflußkraft des Christentums. In seiner ersten Kanzlerrede<br />
blieb ihm, weil er nicht Verblüffung erregen wollte, nichts übrig, als<br />
sich ebenfalls mit einer religiösen Redensart zu begnügen. Nicht einmal<br />
er glaubte an die Macht der Glaubensgestalten, zu denen er sich bekannte;<br />
er hätte sonst nicht nach der Schablone regiert. Er hätte sonst zu rufen gewagt:<br />
„In hoc signo vinces." Er war nur in der Pietistenzeit stecken geblieben,<br />
wie die Jesuiten — theoretisch wenigstens — im Mittelalter. Die<br />
Selbsttäuschung des unmöglichen Reichskanzlers Michaelis war so stark,<br />
daß er Männer wie Napoleon, wie Friedrich den Großen klein fand im<br />
Vergleiche mit dem "wirklich großen Luther". "Napoleons Geist ist tot.<br />
Friedrichs des Großen Geist ist im Verblassen." Wobei besonders darauf<br />
zu achten, daß diese Entdeckung seinen evangelisch-sozialen Zuhörern als<br />
eine erfreuliche Nachricht mitgeteilt wurde.<br />
Es wäre aber zu klein und zu bitter, wenn ich meine Geschichte der<br />
Geistesbefreiung abschließen wollte mit einem Worte, das nur bezeichnend<br />
ist für das Fackeln des wilhelminischen Ungeistes, der sich zuerst so pomphaft<br />
als den Erben des friderizianischen Geistes eingeführt hatte. Ich habe,<br />
bevor ich die Feder aus der Hand lege, noch zwei Fragen zu beantworten.<br />
Und vorher, womöglich, nach Eideshelfern zu suchen für die Form,<br />
in welcher ich bestrebt bin, die Frage nach den letzten Dingen zu beantworten:<br />
für die gottlose Mystik. Man wird es hoffentlich nicht Vorsicht<br />
oder gar Feigheit nennen, daß ich mich da auf andere berufe; es ist nur<br />
eine berechtigte Taktik: der Leser glaubt ja eher, was schon die anderen<br />
glauben.<br />
So habe ich im Eingange dieses letzten Abschnittes zunächst Beispiele<br />
dafür gesammelt, daß es vorbei ist mit dem alten Glauben. So will ich<br />
nun, bevor ich meine gefährliche Stellung an zwei Fronten — zugleich<br />
gegen den längst vermoderten Kirchenglauben und zugleich gegen den<br />
jüngst begrabenen Materialismus oder Mechanismus — befestige, an einem<br />
etwas älteren französischen und an einem jüngsten deutschen Buche zeigen,<br />
daß das Ziel doch nicht von mir allein geschaut worden ist: Zerreißung der<br />
Ketten des alten kirchlichen Dogmas, ohne Anlegung der anderen Ketten<br />
des neuen scheinwissenschaftlichen Dogmas. In den letzten Dingen ist der<br />
Materialist so blind abergläubig wie jeder Fetischanbeter.<br />
Guyau Mein französischer Eideshelfer ist Jean Marie Guyau (geb. 1852,<br />
gest. 1888), in Frankreich um die Jahrhundertwende viel gelesen und<br />
viel bewundert, in Deutschland selten genannt und fast unbekannt.<br />
Ich muß ordentlich vorausschicken, wenn ich nicht die Achtung der Buch<br />
Jean Marie Guyau 405<br />
besprecher verscherzen will, daß er ein Stiefsohn und Schüler des<br />
"Philosophen" Alfred Fouillée (geb. 1838) war, eines evolutionistischen<br />
Monisten, der mit vielen unklaren Begriffen ("idées = forces") einen<br />
Mischmasch von Idealismus und Darwinismus herstellte und zu Markte<br />
brachte, unverdaulich für einen gesunden deutschen Magen. Auch hat<br />
dieser Fouillée ein für uns unlesbares Buch über Ethik, Ästhetik und<br />
Religion seines Stiefsohnes (1889) geschrieben. Guyau selbst ist freier<br />
von Scholastik, und namentlich das Werk, das uns hier allein angeht, ist<br />
gut europäisch: "L'irréligion de l'avenir" (1887). Ein ehrliches Buch,<br />
das denn auch von den Frommen übel genug begrüßt worden ist. Man<br />
achte auf den Titel, der nicht so einfach zu übersetzen ist, wie man zuerst<br />
glauben könnte. "Irréligion" wurde früher, besonders von Kanzelrednern<br />
gebraucht, mit einem negativen Vorzeichen gedacht: Religionslosigkeit, Unglaube;<br />
Guyau denkt sich das Wort mit einem positiven Vorzeichen, etwa:<br />
"Der gottlose Glaube der Zukunft"; der Untertitel "eine soziologische<br />
Studie" könnte irreführen, wenn man vergäße, daß Guyau (entgegen<br />
dem Altruismus des offiziellen Sozialismus) sich aus Individualismus<br />
und Solidarismus eine eigene Ethik des Lebensfanatismus (man entschuldige<br />
die vielen Ismen) aufgebaut hatte. „Ich soll, weil ich kann."<br />
Er hatte offenbar außer Kant schon Nietzsche gelesen. Er hätte auch<br />
ebensogut oder schlecht, wie Nietzsche den Begriff "amoralisch" geprägt<br />
hatte, anstatt "irréligion" sagen können: "aréligion". Da wäre aber<br />
seine gottlose Religion der Zukunft nicht gerettet gewesen. Ein Deutscher<br />
hätte dem Buche wahrscheinlich die reizlose Überschrift gegeben: "Die<br />
Religion der Zukunft".<br />
Der Gedankengang von Guyau ist bald mehr biologisch, bald mehr<br />
soziologisch; er hat außer Darwin und den Positivsten besonders Herbert<br />
Spencer mit Nutzen studiert; und ist von der Todesnähe aller bisherigen<br />
Religionen durchaus überzeugt. Sie waren — so erfahren wir — zunächst<br />
Erscheinungen einer Physik außerordentlicher Art: einer mythologischen<br />
Physik; die Entstehung der Religion können wir wie die der Sprache, der<br />
Kunst usw. vom Tiere aus verfolgen. Natürlich fehlen die drei Stufen<br />
Comtes nicht: die Physik der Religion geht aus der mythologischen Form<br />
in die metaphysische (als Spiritismus oder Spiritualismus) und zuletzt<br />
in die wissenschaftliche über, die allem solchen Aberglauben (auch dem an<br />
die Vorsehung) ein Ende macht. Ein gründliches Ende. Solange man<br />
noch reformiert, solange ist die Religion noch lebendig. Wir haben es so<br />
herrlich weit gebracht, daß der gegenwärtige (oder erst der zukünftige?)<br />
Mensch der Evolution in Wahrheit der Gottmensch des Christentums ist.<br />
So ungefähr Nietzsches Übermensch. Dennoch wäre es nicht gut, um der