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Band 4 - m-presse

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130<br />

Viertes Buch. Dritter Abschnitt<br />

Es darf freilich nicht ganz übersehen werden, daß der Spielraum<br />

zwischen Glauben und Unglauben im Protestantismus sehr weit ist, in<br />

der Theologie, also erst recht in der Dichtung. Ein Werk wie "Die Heilige<br />

und ihr Narr" von Agnes Günther, kaum einem bestimmten Bekenntnisse<br />

zuzuschreiben, kann noch für einen kirchlich frommen Roman gelten.<br />

Frenssen mit seinen Erzählungen, Friedrich Naumann mit seinen religiösen<br />

und politischen Schriften dürfen sich noch christlich nennen. Anders im<br />

Katholizismus, wo die geringste Abweichung von der Kirchenlehre schon<br />

kirchenfeindliche Ketzerei heißt. In der Theologie ist der katholische Modernismus<br />

wenig genug von der Orthodoxie verschieden; und in der<br />

Dichtung klingt jeder Versuch, auch nur die Unfehlbarkeit Roms anzugreifen,<br />

nicht nur für katholische Ohren wie Gottlosigkeit. Anzengruber<br />

gilt für einen kirchenfeindlichen Dichter.<br />

In romanischen Ländern ist die Angst vor solcher Literatur noch größer.<br />

Ein so religiöses Buch wie der „Santo" von Fogazzaro ist auf die Liste<br />

der verbotenen Bücher gesetzt worden; und Zola als der Verfasser von<br />

„Lourdes" und „Rome" wird für den leibhaftigen Satanas ausgegeben,<br />

nicht um der geschlechtlichen Marke willen, die er jedem seiner Bücher<br />

aufgeklebt hat, sondern weil er da den Wunderglauben des Wallfahrtsortes<br />

und die Realpolitik Roms mit dem gleichen nüchternen Rationalismus<br />

dargestellt hat, wie etwa sonst den Geldmarkt oder den Markt der<br />

Nahrungsmittel. Nicht ohne Heiterkeit wird man übrigens feststellen<br />

können, daß die künstlerischen Mittel sich von Eugène Sue bis Zola nicht<br />

so sehr verändert haben, wie die Raschlebigkeit des 19. Jahrhunderts und<br />

die berühmte Revolution der Literatur hätten erwarten lassen. Eine<br />

Vergleichung zwischen „Juif errant" und „Rome" würde zeigen, daß<br />

die Spannung immer noch mit ähnlichen Mitteln hergestellt wird: Jesuiten<br />

und Gift. Und der ideale Papst der Zukunft spielt bei Zola die gleiche<br />

Rolle wie einst in Gutzkows "Zauberer von Rom". Die Mühlen der<br />

Dichter mahlen noch langsamer als die Mühlen Gottes.<br />

Zola Aber der Naturalismus, dem Zola durch seine eiserne Konsequenz<br />

und durch seine überwältigende Sprachkraft für einige Zeit zum Siege<br />

verholfen hatte, ist — weil er jeden idealistischen Schein zerstört — auch<br />

gegen jede Religion gerichtet. Nicht zufällig heißt diese künstlerische Bewegung<br />

ebenso wie Jahrhunderte vorher jede Richtung, die den frommen<br />

Supranaturalismus ablehnte: Naturalismus. Schon die Pelagianer des<br />

5. Jahrhunderts, die die Erbsünde leugneten und von der Vernunft allein<br />

etwas wie Seligkeit erwarteten, wurden Naturalisten geschimpft; dann<br />

die Indifferentisten, wie Bodin, die Deisten, wie Herbert von Cherbury,<br />

endlich allgemein die Pantheisten, die mit Spinoza keinen anderen Gott<br />

Zola 131<br />

kannten als die All-Natur. Das hätte sich freilich Zola nicht träumen lassen,<br />

daß eine Brücke geschlagen werden könnte, zurück von ihm zu Goethe<br />

und zu Spinoza.<br />

Zolas Weltansicht nach ist der Naturalismus (in Dichtung und Malerei)<br />

aber nichts anderes als die Anwendung des Positivismus auf die<br />

Kunst; bewußt war Zola und seinen zahlreichen Nachahmern freilich<br />

nur ihre Herkunft von Auguste Comte; näher betrachtet, auf seine Sehnsüchte<br />

hin, die dann zuletzt zu einem naturalistischen Symbolismus führten,<br />

ist der künstlerische Naturalismus dem Ideale sehr ähnlich, das die Vorläuferin<br />

Comtes, die tiefsinnige Sophie Germain, in ihren nachgelassenen<br />

Schriften von einer Kunst der Zukunft (heute fast schon der Vergangenheit)<br />

entworfen hat. Freilich wieder ein altes Ideal: Nachahmung der wirklichen,<br />

nur jetzt mit Hilfe der Wissenschaft viel besser geschauten Natur.<br />

Abseits von den literarischen Schulen des neuen Frankreich stellte France<br />

sich Anatole France (geb. 1844), der als Dichter erst nach 1870 auftrat,<br />

während Zola schon vor dem Sturze Louis Napoleons seine ersten Erfolge<br />

errungen hatte. France kehrte zu der besten Zeit des 18. Jahrhunderts<br />

als einem Vorbilde zurück, in Stil und Gesinnung; er will und darf an<br />

Voltaire erinnern, als überlegener Spötter, ohne natürlich unter einer<br />

ganz anderen Weltlage Voltaires Weltwirkung zu erreichen. Doch France ist<br />

so unfranzösisch, daß er sogar zur großen Revolution einen eigenen Standpunkt<br />

gewinnt. Er hat, selbst ein viel offenerer Atheist als der Präger<br />

des „Ecrasez l'infâme", den Gegensatz zwischen dem Deisten Robespierre<br />

und den Gottesfeinden der Zeit recht gut dargestellt in seinem Romane<br />

„Les Dieux ont soif". Zum kleinen Helden, einem herzensguten jungen<br />

Künstler, der in fast reiner Begeisterung eines der wildesten Mitglieder<br />

des Blutgerichts wird, sagt der Epikureer: Sie sind in jenseitigen Dingen<br />

ebenso konservativ, ja reaktionär wie Robespierre und Marat. „Et je<br />

trouve singulier que les Français, qui ne souffrent plus de roi mortel,<br />

s'obstinent à en garder un immortel, beaucoup plus tyrannique et féroce...<br />

L'humanité copie ses dieux sur les tyrans, et vous, qui rejetez l'original,<br />

vous gardez la copie." (S. 86.) „Jean Jacques ... était un jean-fesse<br />

(etwa: Schlappschwanz) qui prétendait tirer sa morale de la nature et<br />

qui la tirait en réalité des principes de Calvin." (S. 88.)<br />

Der Epikureer des Romans, ein Ebenbild des Verfassers, spricht<br />

unaufhörlich von dem Gotte, an den er nicht glaubt; auch mit dem frommen<br />

Pfarrer, der neben ihm der Guillotine zum Opfer fallen wird. Der<br />

Pfarrer ist milde; der Epikureer nicht. Er schätzt außer seinem Lucretius,<br />

den er immer bei sich führt, auch auf dem Wege zum Schafott, besonders<br />

Helvetius, Diderot, Holbach.

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