Band 4 - m-presse
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296 Viertes Buch. Achter Abschnitt<br />
physik und das Schlagwort „Pessimismus" eine — wenn auch vorübergehende<br />
— Mode wurde. Das Rätsel löst sich ein wenig, wenn man darauf<br />
achtet, daß nicht Eduard von Hartmann die Mode hervorgerufen hatte,<br />
sondern ein für die deutschen Philosophen und für das Publikum nicht eben<br />
ehrenvoller Zufall: der überwältigende oder verblüffende Selbstdenker<br />
Schopenhauer, mit seinem Hauptwerke seit über vierzig Jahren auf dem<br />
Plan, wurde erst in den sechziger Jahren von einer neuen Jugend entdeckt,<br />
Bahnsen gegen das Totschweigesystem der Zunft. Julius Bahnsen, über den einiges<br />
zu sagen ist, war nicht der einzige Wahrheitssucher dieses Jahrzehnts, der<br />
sich so lange für einen Schüler Hartmanns hielt, bis der gemeinsame<br />
Meister ihm ganz bekannt wurde, Arthur Schopenhauer, der den Pessimismus<br />
ganz natürlich in den trüben Zeitläuften der Heiligen Alliance<br />
gelehrt hatte.<br />
Kein Denker, der in der Geschichte der Philosophie mitzählt, aber ein<br />
immerhin moderner Freigeist ist unter den Schülern Schopenhauers dieser<br />
oft überschätzte, in Sache und Sprache unzureichende "Charakterologe"<br />
und "Realdialektiker" Julius Bahnsen. Er holte später auf dem Umwege<br />
über E. von Hartmann einige Hegelsche Begriffskunst zu seinem „System"<br />
herbei, blieb aber wesentlich seinem Meister Schopenhauer treu. Mit<br />
entwaffnender, ahnungsloser Bescheidenheit ist er stolz darauf, nach dem<br />
Tode Frauenstädts für den nächsten Geisteserben des Meisters zu gelten;<br />
er hatte sich ebenfalls ein Gesamtregister aus Schopenhauers Werken angelegt;<br />
die wortabergläubige Urlüge des Meisters, die Welt als Wille,<br />
hatte er unbesehen zur Grundlage seines ganzen Philosophierens gemacht.<br />
Aber nichts ist da, was auch nur an der Größe Schopenhauers gemessen<br />
werden könnte.<br />
Nichts in der Darstellung. An Wissen darf Bahnsen weder mit<br />
Schopenhauer noch mit Hartmann (den er in seinen Memoiren beschimpft<br />
und in dem vom Herausgeber kastrierten Originale offenbar noch mehr<br />
beschimpft hat) verglichen werden; und seine Sprache ist trotz geistreicher<br />
Lichtblitze ungelenk und schwerfällig. Auch Schopenhauer scheute vor<br />
keinem Fremdwort zurück, wenn es ihm prägnanter zu sein schien als das<br />
deutsche; man halte aber neben Schopenhauers sieghafte Sprachkraft etwa<br />
folgenden (nicht vereinzelten) Satz des kleinen Bahnsen: "Alle solche in der<br />
Phänomenalität des Quantitativen verbleibenden Nuancen betreffen ja<br />
überhaupt nicht den Essentialgehalt einer vorgetragenen Wahrheit, sondern<br />
bloß die greller oder leiser schattierende Tingierung am Kolorit ihrer Darstellungsweise."<br />
Die kindliche Freude des Oberlehrers an seiner Bildung.<br />
Nichts in der Riesenkraft des Hasses gegen die „Philosophieprofessoren<br />
der Professorenphilosophie". Auch Schopenhauer wurde ein „freier Schrift<br />
Julius Bahnsen 297<br />
steller" erst, nachdem die akademische Laufbahn gescheitert war; doch<br />
Bahnsen wird den Schmerz darüber niemals los, daß er ein "Arschpauker"<br />
geblieben und nicht Professor geworden ist; und hat doch Anpassung genug,<br />
seinen Schulandachten die gewünschte biblische Salbung beizumischen.<br />
Aber ein religiöser Freigeist war er doch, ein Unchrist. In einem der<br />
elenden Gedichte, die Rudolf Louis als Anhang zu Bahnsens „Wie ich<br />
wurde, was ich ward" herausgegeben hat, heißt es:<br />
"Es ist ein Sonntagmorgen,<br />
Zur Kirche wallfahrtet der Christ,<br />
Ich aber such', wo geborgen<br />
Meines Meisters (Schopenhauers) Leichnam ist."<br />
Er glaubt an keinen Satz des Katechismus, er ist in Glaubenssachen<br />
ein ausgesprochener Nihilist. Eine Wirkung konnte er damit nicht mehr<br />
ausüben, weil sein Meister eben alles schon besser gesagt hatte, und weil<br />
Bahnsens neben dem Unglauben einhergehender Aberglaube (an die<br />
Konstanz des Individualschicksals, an die Bedeutung bestimmter Tage)<br />
nach Schopenhauer für uns den Geschmack von aufgewärmtem Kohl hat;<br />
und weil Bahnsens begriffliche Bewältigung des Christentums nun schon<br />
gar nicht an die geistreiche und geistige Art von Hartmanns „Selbstzersetzung"<br />
heranreicht. Immerhin verdient es gebucht zu werden, wie so<br />
ein subalterner Schüler des starren Willensphilosophen und des beweglichen<br />
Unbewußtseins-Verkünders sich mit den unchristlichen Ideen Pessimismus<br />
und Nihilismus auseinandersetzte.<br />
In seinem (anonymen) "Pessimistenbrevier" (1878) und einem Pessimiste<br />
Aufsatze „Zur Verständigung über den heutigen Pessimismus" (1881)<br />
hat Bahnsen — in Worten ohne Resonanz — das Elend der Welt, ihre<br />
"Miserabilität", als unentrinnbar dargestellt; jede Aussicht auf Heil oder<br />
Erlösung verrammelt. Je diesseitiger, unmetaphysischer (er glaubte das<br />
Gegenteil) Bahnsens Pessimismus war, um so weniger brauchte sich der<br />
Einzelne, wenn er seinem Charakter nach ein Kämpfer war, durch die<br />
Elendigkeit des Lebens von Kampfesfreudigkeit, also doch von Lebensfreudigkeit,<br />
abhalten zu lassen. Man hat da eine Verwandtschaft zwischen<br />
Bahnsen und Nietzsche herauszurechnen gesucht und nur vergessen, daß<br />
Nietzsche niemals ein Systembauer war und den Pessimismus Schopenhauers<br />
erst abstreifte, als er — mit Beibehaltung eines wilden Erkenntnis-<br />
Pessimismus — der tanzende Lebensbejaher wurde. Darauf, daß Nietzsche<br />
die Hauptwerke Bahnsens kannte, in der Charakterologie gute Gedanken<br />
und Beobachtungen fand und wahrscheinlich auch die „Realdialektik" gelesen<br />
hatte, darauf ist gar kein Gewicht zu legen; der langsame Bahnsen war