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Band 4 - m-presse

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328<br />

Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />

anders ist als seine übrigen, traumhaft phantastischen Dichtungen, die aber<br />

— bei aller Keuschheit der Sprache — Blutschande und Vatermord so gut<br />

wie amoralisch behandelt, dazu mit wilder Tendenz gegen Papst und Kirche.<br />

Aber ich will mich an ein viel bekannteres Werk von Shelley halten, an<br />

seinen "Entfesselten Prometheus" (ebenfalls von 1819, eigentlich "der<br />

fessellose, der zügellose Pr.", unbound), der in der Form an den uralten<br />

Mythus des Äschylos erinnern will, der aber im Inhalt der Titan von<br />

1819 ist, von heute, wenn man will. Der Todfeind des Gottes, der just<br />

1819 den Riesen, das Volk, wieder einmal an den Felsen schmieden und<br />

martern wollte.<br />

Für diese Umwertung oder Modernisierung des schwer entzifferbaren<br />

Prometheusdramas von Shelley brauche ich mich kaum selbst zu bemühen;<br />

ich kann mich auf einen 1876 geschriebenen, erst aus dem Nachlaß bekannt<br />

gewordenen Aufsatz des prächtigen Ferdinand Kürnberger berufen, des<br />

"Feuilletonisten", der vielleicht einem Vischer ebenbürtig war an Sprachkraft<br />

und Freiheit, der manch ein "Feuilleton" verfaßt hat, das den Wert<br />

eines starken Buches birgt. In seinem Bericht über den „Entfesselten Prometheus"<br />

(deutsch von Albrecht Graf Wickenburg) stellt er den optimistischen<br />

Seher Shelley zunächst dem pessimistischen Denker Schopenhauer gegenüber<br />

(wenige Jahre später hätte eine Vergleichung mit Nietzsche näher<br />

gelegen). Dann fährt er fort: "Das Gesicht des entfesselten Prometheus<br />

ist politische Physiognomie. In der Ausführung ist der Entwurf ein historisches<br />

Stimmungsbild geworden. Das Weltalter des Zeus ist ein<br />

Porträt, wozu des Dichters Mitwelt Modell saß. Zeus sieht der Heiligen<br />

Alliance so ähnlich wie diese sich selbst. Prometheus verkörpert die gefesselte,<br />

aber in ihrem Apostaten von St. Helena nichts weniger als überwundene<br />

Revolution. Sein Leiden ist durchaus ein tätiges, sein Knirschen nur<br />

der Moment, aber sein Atem die Zukunft." Demogorgon (der Schrecken<br />

vor dem Volke) tritt auf und Zeus verschwindet. Es ist vorbei mit den Göttern;<br />

der Titan Volk muß siegen. "Die Volkssouveränität braucht nichts<br />

als ihr Dasein zu zeigen, und der Zwingherr, der zu ihrem Träger sich aufwarf,<br />

wird von selbst — ein leerer Raum . . .; seine Behandlung des Stoffes<br />

atmet den Geist seiner Zeit." So urteilte Kürnberger, der damals sicherlich<br />

schon Taines Darstellung des neuen Geistes der englischen Literatur kennen<br />

gelernt hatte.<br />

Und nun möchte ich noch einmal an die Jahreszahlen erinnern. Im Jahre<br />

1818 war — freilich ohne Zusammenhang — Kotzebue ermordet und Hegel<br />

nach Berlin berufen worden; 1819 setzte die Gegenrevolution der Heiligen<br />

Alliance ein, die — vielleicht mehr als wir wissen — von dem Franzosenhaß<br />

der englischen Regierung angetrieben worden war. Aber im Gegensatze<br />

Percy Bysshe She11ey 329<br />

zu der antirevolutionären englischen Regierung lebte auf der Insel immer<br />

noch das niemals ganz unterjochte, niemals ganz christliche Volk der Angelsachsen<br />

in seiner — wenn ich so sagen darf — feudalen Freiheit, vorurteilsloser<br />

als Robespierre und Napoleon zusammen, und eben in dem Jahre<br />

der Gegenrevolution erhob Shelley seinen Freiheitsruf, seinen Knabenträumen<br />

treu. Der oberste Gott wird gestürzt, by Jove.<br />

Ich habe schon erwähnt, daß nicht Shelley, sondern daß Byron der<br />

Sprecher Englands für Europa war, der tolle Lord, der vielleicht wirklich<br />

das griechische Abenteuer, in welchem er seinen Tod fand, nur suchte, weil<br />

seiner Löwenkraft der Beruf eines Dichters, eines Schwätzers, nicht genügte;<br />

ich habe aber auch schon kurz angedeutet, daß Lord Byron, bis zur<br />

persönlichen Begegnung mit dem Befreier Shelley, gar nicht der satanische<br />

Byron war, den Europa nachher bewunderte; erst Shelley warf den Freiheitsgedanken<br />

in die bereite Feuerseele, und Byron war mit seinem unerhörten<br />

Talente der Mann, anstatt der wolkenhaften unfaßbaren (nicht<br />

etwa allegorischen oder abstrakten) Schemen Shelleys die eigenen verständlichen<br />

Hölleltgestalten (Kain, Don Juan) der Weltliteratur zur Nachahmung<br />

hinzuwerfen.*)<br />

So gelangte die Freiheitsmonomanie Shelleys, auf dem Umwege über<br />

Lord Byron, von England nach dem Festlande; von England, wo das<br />

frühere Freiheitsgerede der "Seeschule" (wie Taine und dann Brandes<br />

nachgewiesen haben) zwar an die Revolution noch angeknüpft hatte, aber<br />

eigentlich nicht die große Freiheit meinte, sondern nur die kleinen englischen<br />

"Freiheiten", unter einem konstitutionellen Könige und unter einer protestantischen<br />

Kirche. Die große Freiheit, die Abschüttelung der Fesseln alter<br />

Sitte, alten Rechts und alter Religion, war Shelleys ewige Geliebte gewesen.<br />

In seinem Bilde würde beinahe ein Zug der Verwandtschaft fehlen,<br />

wenn er nicht — wie Lessing, Herder und Goethe — mit der Philosophie<br />

und der Kritik Spinozas in Verbindung gebracht werden könnte. Shelley<br />

war Spinozist, vielleicht sogar unter dem Einflusse Goethes, den er liebte,<br />

von dem er entscheidende Faustfragmente (Prolog im Himmel, Walpurgisnacht)<br />

ins Englische übersetzte; er stand übrigens mit seinem Spinozismus<br />

unter seinen rebellischen Landsleuten nicht ganz allein: auch Keats, noch<br />

jünger als Shelley und doch noch vor ihm gestorben, an der Schwindsucht,<br />

zu 25 Jahren, vergötterte die Natur. Nun habe ich die wissenschaftliche<br />

Arbeit (von S. Bernthsen) über Shelleys Spinozismus bereits angeführt;<br />

ich lege aber weit weniger Wert auf den dort geführten Nachweis, daß<br />

*) Auch über "Shelleys Einwirkung auf Byron" gibt es eine recht gute, nur allzuphilologische<br />

Arbeit von Heinrich Gillardon (1898).

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