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Band 4 - m-presse

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380 Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />

Die modernsten Deutschen, die solche Wege zu gehen berufen wären,<br />

sind Privatdozenten oder gar Professoren, haben furchtbar viel gelernt,<br />

jonglieren mit Abstraktionen, glauben nicht mehr an Sozialismus oder<br />

Jesus oder Gott, bedürfen keiner Religion, möchten aber einen Kirchen-<br />

Ersatz auf den Markt bringen. Ein lehrhaftes Beispiel für diese neueste<br />

Vernunftkirche bieten Anregungen in zwei Vorträgen, die im Frühjahr 1919<br />

gehalten wurden und 1920 in den "Philosophischen Vorträgen" der Kant-<br />

Gesellschaft erschienen sind. Beiden ist es eigen, daß sie die Theologie als<br />

eine Wissenschaft neben anderen Wissenschaften weiterbestehen lassen<br />

gebraucht wird, sondern in jeglicher Gemeinschaft, in der die Energien der Gerechtigkeit und<br />

der Bruderliebe real vorhanden sind. Bei den Blumhardts handelt es sich freilich nicht um<br />

bloßen religiösen Pragmatismus, wie er dann in der Folge bei Kutter in mystischer Verkleidung<br />

erscheint, sondern um "Absichten" Gottes, um von ihm gewolltes und bewirktes<br />

"Durchbrechen". Doch verzichten die Blumhardts auf theologische Spekulationen. Sie sind<br />

im Besitz der Kraft und darum brauchen sie weder eine philosophische noch eine theologische<br />

Begründung ihrer Reichgotteshoffnung. Anders bei Kutter, der das Schlagwort vom "lebendigen<br />

Gott" zum Schlachtruf der Religiös-Sozialen erhoben hat, des lebendigen Gottes,<br />

der dem toten Gott der auf reale Reichgotteshoffnung verzichtenden Kirche gegenübergestellt<br />

wird.<br />

Hermann Kutter, geboren 1863, seit 1898 Pfarrer in Zürich, hat der religiös-sozialen<br />

Bewegung das grundlegende Werk geschrieben: "Das Unmittelbare", eine Menschheitsfrage,<br />

verlegt bei Diederichs in Jena. In diesem Buch gibt Kutter seinem Prophetismus eine<br />

philosophische Begründung und Rechtfertigung, über der sich dann später, los von allem<br />

theologischen Wesen, seine rein prophetischen Anklagen wider die "Christlichkeit" der Kirche<br />

erheben.<br />

Das unmittelbare Leben, nach dem die ganze Entwicklung des geistigen und religiösen<br />

Lebens hintreibt, ist der lebendige Gott, geoffenbart in Jesu Christo. Dem Gott der Theologie<br />

und der offiziellen Kirche wird der lebendige Gott entgegengestellt. "Gottes Wesen ist die<br />

heilige, auf die Verwirklichung des höchsten Zieles gerichtete, im Kampf mit dem stärksten<br />

Widerstand begriffene Energie" (Matthieu). Träger solcher göttlicher Energie, vom lebendigen<br />

Gott ergriffene Menschen, sind auch die, die weder mit der Kirche noch mit der christlichkirchlichen<br />

Terminologie etwas zu tun haben wollen. Die ganze kirchliche Terminologie sinkt<br />

zur Bedeutungslosigkeit herab vor dem lebendigen Gott, über dessen Transzendenz jede Diskussion<br />

überflüssig wird, der sich einfach offenbart im "unmittelbaren Leben". Der Intellektualismus<br />

ist der große Feind dieses unmittelbaren Lebens, indem er den Menschen verführt,<br />

bloß aus der Reflexion zu leben. Die Kirche ist der große Feind, indem sie den Menschen an<br />

Satzungen und Zeremonien binden, ihn knechten, statt emanzipieren will. In der Emanzipation<br />

des Menschen von aller Autorität liegt der Fortschritt nach dem lebendigen Gott hin.<br />

Der Staat ist der große Feind des unmittelbaren Lebens, indem er den Menschen zwingt,<br />

staatsbürgerlich zu denken. Die Wirtschansordnung ist der große Feind; denn in ihr gilt die<br />

Sache mehr als der Mensch; in ihr kann der Mensch nicht zu sich selbst kommen. "Die Besitzfrage<br />

soll gelöst werden, damit die Menschheit zu sich selbst komme, aus langem, schwerem<br />

Traum endlich erwache, die Illusionen und Täuschungen alle von sich werfe, und das Leben,<br />

ihr eigenes, köstliches Leben, wieder begrüße."<br />

Kutter glaubt in seinem "Unmittelbaren" an die große Mission der Sozialdemokratie.<br />

Er begrüßt sie als unbewußte Trägerin hervorbrechender Gotteskräfte. Sie wird die endgültige<br />

Lösung der Besitzfrage bringen. Er findet in der Bewegung der Sozialdemokratie —<br />

nicht in der Idee des Sozialismus! — jene Gotteskräfte, die er in der christlich sein wollenden<br />

Kirche vermißt, die doch nur immer das Seelenheil des Einzelnen in den Vordergrund ihrer<br />

Neueste Vernunftreligion 381<br />

möchten. Der Rechtslehrer Radbruch — ich glaube, er ist seitdem preußischer<br />

Justizminister geworden — bietet ein kurzes Programm zu einer<br />

"Religionsphilosophie des Rechts". Selbstverständlich ist der Verfasser<br />

kein Pfaff; er zitiert neben der Bibel sehr weltliche Dichter und scheut vor<br />

keinem Verdacht zurück; nicht einmal vor dem, er lehre eine Religion ohne<br />

Gott. Das sei nicht ganz unrichtig, denn Gott sei nicht Religion sondern<br />

Theologie. Er lehre eine Diesseitsreligion, doch nicht ohne einen psychologischen<br />

Zusammenhang mit positiven Jenseitsreligionen. Dieser psychologische<br />

Zusammenhang soll offenbar den Weg zur Gründung einer neuen<br />

Verkündigung stellt, während die große Hoffnung auf das Kommen des Gottesreiches entweder<br />

als historisch interessante Schrulle der Urchristen, als pietistische Schwärmerei einzelner<br />

Unzurechnungsfähiger behandelt wird oder durch theologische Umdeutung gesellschaftsfähig<br />

gemacht wird. Die Utopien der Sozialdemokratie stützen sich, ihr selber unbewußt, auf Reichgotteshoffnungen.<br />

Die große Hoffnung gibt der Sozialdemokratie die mächtigen Impulse.<br />

Freilich, äußerlich betrachtet, erscheint sie als religionsfeindlich; denn sie hält nichts auf den<br />

religiösen Nominalismus des Christentums. Von der Reichgotteshoffnung aus gesehen,<br />

brechen aber in ihr weit stärkere Gotteskräfte durch als in der christlichen Kirche. Und auf diese<br />

Kräfte kommt eben alles an und gar nichts auf das Bekenntnis. Die Kirche ist gottlos, der<br />

Kirchengott ist ein toter Gott, weil die Hoffnung auf das Kommen des Reiches aufgegeben oder<br />

umgedeutet wurde.<br />

Schwere, in ihrer rhetorischen Gewalt furchtbare Anklagen gegen die Kirche und die<br />

sie protegierende bürgerliche Gesellschaft schleudert Kutter in seinen Büchern „Sie müssen",<br />

"Gerechtigkeit", "Wir Pfarrer", "Revolution des Christentums" und in vielen einzelgedruckten<br />

Predigten. Die Sozialdemokraten "müssen" gegen den Mammon kämpfen, weil der lebendige<br />

Gott sie treibt. "Gerechtigkeit" ist nicht, weil die christliche Kirche Gott zu einem Götzen<br />

gemacht hat, der an Institutionen gebunden ist, und die Kirche es nicht mehr wagt und nicht<br />

mehr versteht, "aus dem lebendigen Gott zu leben". "Wir Pfarrer" müssen anders werden.<br />

Nicht Pfarrerehre: Gottesehre. Nicht kirchliches Bewußtsein: Gottesbewußtsein. Nicht Kirchentum:<br />

Evangelium. Nicht Moral und Pharisäismus: Leben und Liebe. Nicht Kompromisse<br />

mit der Welt: Kampf um eine neue Welt. Die Entscheidungsschlacht gegen den Mammon<br />

muß geschlagen werden, die Lösung der sozialen Frage muß in der Kraft des vollen Evangeliums<br />

erkämpft werden.<br />

Kutter blieb in der gelästerten Kirche und predigt noch heute einer sehr zahlreichen, gut<br />

bürgerlichen Gesellschaft den lebendigen Gott. In die sozialdemokratische Partei ist er nicht<br />

eingetreten, auch dann nicht, als er in Gefahr war, nicht wiedergewählt zu werden, und ihm<br />

die Partei ihre Unterstützung versprochen hatte, wenn er einträte. Vom orthodox kirchlichen<br />

Standpunkt aus beurteilt, ist Kutter zweifellos Atheist, wie die meisten Ketzer. Was kümmern<br />

ihn Transzendenz oder Persönlichkeit Gottes? Was geht ihn der Streit um Pantheismus und<br />

Theismus, Panentheismus und Deismus an? Nichts, aber auch gar nichts. In der Kraft des<br />

lebendigen Gottes, d. h. im unmittelbaren Leben stehen, in der Gerechtigkeit und Liebe,<br />

das heißt "an Gott glauben".<br />

Was haben nun seine Schüler aus dem lebendigen Gott gemacht? Es galt ja hier nicht,<br />

Lehren zu übernehmen, sondern ebenfalls in der Kraft des lebendigen Gottes zum Leben<br />

Stellung zu nehmen. Da offenbarte sich denn auch die Schwäche der Kutterschen „Theologie":<br />

In der Kraft des lebendigen Gottes leben ist das Vorrecht solcher, die noch nicht mit dem<br />

Ballast der historisch-kritischen theologischen Wissenschaft belastet sind. Darum fanden sich<br />

die geistlichen Jünger Kutters in der allerverschiedensten Weise mit dem lebendigen Gott<br />

ab, leider häufig so, daß der lebendige Gott wiederum ein theologischer Begriff wurde, so<br />

daß der lebendige Gott aus der Überzeugung heraus verkündigt wurde, daß er der richtige

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