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Band 4 - m-presse

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278 Viertes Buch. Siebenter Abschnitt<br />

Mit dem besten künstlerischen Takte wird die Person Feuerbachs<br />

beiseite geschoben und der Umschwung in der Religiosität des grünen<br />

Heinrich durch Geschöpfe des Dichters vollzogen, in der Theorie mehr durch<br />

den Grafen, im Lebensgefühl mehr durch Dorothea. Diese letzte Liebe<br />

des grünen Heinrich fühlt sich sehr wohl dabei, daß sie auf eigene Faust,<br />

aus dem kindlichsten und reinsten Herzen heraus die Unsterblichkeit nicht<br />

glauben kann. „Wer sagt, daß es ohne Unsterblichkeitsglauben weder<br />

Poesie noch Lebensweihe in der Welt gebe, der hätte sie sehen müssen;<br />

nicht nur Natur und Leben um sie herum, sondern sie selbst wurde wie<br />

verklärt." Über das Dasein Gottes zerbricht sie sich nicht den Kopf, obgleich<br />

diese Frage von der der Unsterblichkeit nicht zu trennen ist. Sie kennt<br />

oder ahnt voraus das übermütig skeptische Wort von Renan: "Bei Gott<br />

ist alles möglich, auch daß er existiert!" (IV, S. 251.) Aber man soll gegen<br />

den lieben Gott, auch wenn man von seiner Abwesenheit überzeugt ist<br />

und ihn nicht fürchtet, nicht grob und unverschämt sein; das scheint ihr<br />

mehr eine schäbige, denn tapfere Manier zu sein. Durch den Grafen und<br />

Dorothea, die ihn mit einem sehnsüchtigen Glücksgefühl erfüllt, lernt er<br />

die Gedanken freier Menschen kennen. "Ich hörte ohne alle Bedenklichkeit<br />

vom Sein oder Nichtsein jener Dinge sprechen und fühlte ohne Freude<br />

oder Schmerz, ohne Spott und ohne Schwere die anerzogenen Gedanken<br />

von Gott und Unsterblichkeit sich in mir lösen und beweglich werden"<br />

(S. 259). Jetzt erst, nachdem er zum Atheismus bekehrt worden ist,<br />

greift Heinrich zu den Schriften Feuerbachs, der "gleich einem Zaubervogel<br />

in einsamem Busch den Gott aus der Brust von Tausenden hinwegsang".<br />

Jetzt erst beginnt "ein gewisses Kannegießern über den lieben<br />

Gott, welches mich freilich von den Kinderschuhen an begleitet hat".<br />

Feuerbach wird schalkhaft "der große Gottesfreund" genannt; "es handelt<br />

sich um das Recht, ruhig zu bleiben im Gemüt, was auch die Ergebnisse<br />

des Nachdenkens und des Forschens sein mögen."<br />

Der grüne Heinrich oder Gottfried Keller ist also durch seine Erlebnisse<br />

und durch die Schriften Feuerbachs ein duldsamer Atheist geworden;<br />

den Deismus findet er bereits in einem Briefe vom 4. März 1851 "schwächlich";<br />

ein richtiger Christ ist er schon zur Zeit seiner Konfirmation nicht<br />

gewesen. Ganz vorurteilslos prüft er seine neue Überzeugung darauf<br />

hin, ob sie ihm im Leben und im Tode wertvoller, erhebender werden<br />

könne als die alte; beinahe hätte ich gesagt: nützlicher. Auch im Tode<br />

nützlicher, im Leben als Mittel gegen die allgemeine Todesfurcht.<br />

Hätte Keller die Fertigstellung des letzten Stücks der ersten Fassung<br />

nicht so überhetzt („das Buch mußte doch ein Ende nehmen"), so besäßen<br />

wir wahrscheinlich eine vielleicht zu redselige, aber gewiß für den Schüler<br />

"Der grüne Heinrich" 279<br />

des "himmelstürmenden" Philosophen charakteristische Todespredigt. Der<br />

grüne Heinrich mußte sterben, weil er mit einem verletzten Gewissen für<br />

ein Amt, für sein Volk nicht mehr paßte, und weil seine Liebeshoffnung<br />

gescheitert war; aber dieser Tod wäre nach dem Plane des Dichters auf<br />

einem heiteren Todeswege erreicht worden. Keller wollte ursprünglich<br />

(Brief an Hettner vom 25. Juni 1855) oder doch zur Zeit der Beendigung<br />

diesem Gedanken drei ganze Kapitel widmen und eine förmliche<br />

Elegie des Todes schreiben. Wir hätten da erfahren, wie in Kellers Seele<br />

der alte Glaube an die Unsterblichkeit sowie an die sehr prekäre Lage im<br />

Jenseits und der neue Glaube an die unbedingte und befriedigende Diesseitigkeit<br />

des Lebens miteinander stritten; kein Zweifel, daß Keller damals<br />

schon, wie seine Dorothea, mit einem gewissen trotzigen Jubel den Unsterblichkeitswahn<br />

verwarf. Vielleicht auf die Unsterblichkeit mit so stolzem<br />

Lachen verzichtete, wie einst der römische Dichter Lucretius.<br />

Als Keller aber fünfundzwanzig Jahre später, auf der Höhe seines<br />

Könnens und seines Erfolges, scheu und widerwillig daran ging, durch<br />

eine rücksichtslose Umarbeitung aus seinem Jugendwerke "ein mehr oder<br />

weniger präsentables und liebenswürdiges Buch zu machen", da entschloß<br />

er sich nach langem Zögern, seinem grünen Heinrich — wie gesagt — das<br />

Weiterleben zu gestatten, und so fiel jede Veranlassung zu einer Todespredigt<br />

fort; aus dem liebebedürftigen Jüngling war ein erklärter alter<br />

Junggesell geworden, und über dem Grabe der Mutter wuchs schon längst<br />

das Gras.<br />

So ist der „Grüne Heinrich" in seiner reifen Fassung zu einem Bekenntnisbuche<br />

geworden, in welchem Keller —neben anderen, weltlicheren<br />

Dingen — seine endgültige Befreiung vom alten Kinderglauben darstellt.<br />

Die Retter des Helden, der Graf und Dorothea, glauben nicht einmal<br />

an die Unsterblichkeit der Seele. Heinrich gehört keiner positiven Religion<br />

mehr an, kaum noch einem blassen, rationalistischen Christentum; der<br />

als Jüngling ein Duell für das Dasein Gottes ausgefochten hat (ein<br />

„Narrengefecht" wird es genannt), benützt jede Gelegenheit zu schalkhaften<br />

Blasphemien. Der Gottsucher hat den Gott nicht gefunden und beruhigt<br />

sich dabei. Er leugnet ihn nicht dogmatisch.<br />

Keller fühlte sich aber zu sehr als magister Helvetiae, um in seinen<br />

Dichtungen auch nur der antichristlichen Überzeugung zu folgen. Dafür<br />

war er zu baumeisterlich angelegt. Was er in einem Briefe an Auerbach<br />

(vom 7. Juni 1860) über die Pflicht eines Poeten sagt, läßt sich ohne Zwang<br />

auf seine dichterberufliche Stellung zur Religion anwenden. Man müsse<br />

die Keime der Zukunft soweit verstärken und verschönern, daß die Leute<br />

noch glauben können: ja, so seien sie. "Kurz, man muß, wie man

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