29.10.2013 Aufrufe

Band 4 - m-presse

Band 4 - m-presse

Band 4 - m-presse

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

150 Viertes Buch. Vierter Abschnitt<br />

gemeinte Heuchelei zu treiben, eine Aufforderung an alle Menschen, in<br />

der Nähe eines so nützlichen Gebäudes, weil es auf schwankem Grunde<br />

stehe, den Atem anzuhalten, um es nicht umzublasen. Es sei eine peinliche<br />

Lage für einen gewissenhaften Geist, zwischen der Wahrheit und der allgemeinen<br />

Wohlfahrt eine Wahl treffen zu müssen. Nun sei in der Vergangenheit<br />

die oder jene unwahre Religion für die Sittlichkeit des Volkes<br />

nützlich gewesen; die Frage sei nur, ob die Religion auch in Zukunft aus<br />

utilitaristischen Gründen empfohlen werden könne: den Individuen und<br />

der Gesellschaft.<br />

Über den Zusammenhang zwischen Religion und Moral sei allgemein<br />

eine falsche Meinung verbreitet. Der Religion werde wegen ihrer Macht<br />

ein Einfluß zugeschrieben, der gar nicht von ihr herrühre; so füge sich jedermann<br />

der öffentlichen Meinung, einerlei, ob diese sich auf Religion<br />

gründe oder nicht. Sodann wirke die Erziehung wieder auf die Verallgemeinerung<br />

eines bestimmten moralischen Urteils. Dieser Autoritätsglaube<br />

sei nur eine andere Form der Macht der öffentlichen Meinung;<br />

was man aus Gehorsam gegen diese Macht tue, schiebe man auf einen Gewissenszwang;<br />

auch der Ehrgeiz, ja sogar die Freude an der Sympathie<br />

sei eine Folge der Unterwerfung unter die öffentliche Meinung. Die<br />

Religion wirkt also nicht durch innere Kraft, sondern durch ihre Herrschaft<br />

über die öffentliche Meinung. Darum nehme man es mit der Erfüllung<br />

religiöser Pflichten viel leichter, wenn sie nicht zugleich von der öffentlichen<br />

Meinung auferlegt werden; so sei Unkeuschheit für beide Geschlechter vom<br />

Standpunkte der Religion die gleiche Sünde, werde aber von den Männern<br />

unbedenklich geübt, weil die öffentliche Meinung nichts dagegen habe.<br />

Das Verhalten der Märtyrer werde als Gipfel sittlicher Tapferkeit<br />

hingestellt; Mill scheint geneigt, auch solche Leistungen aus Rücksichten<br />

auf die öffentliche Meinung zu erklären, und zieht die Festigkeit der sonst<br />

so unsittlichen Indianer zum Vergleiche heran; auch sei die Ekstase keine der<br />

Religion allein zugehörige Erscheinung.<br />

Aber alle diese Gründe gegen die sittliche Bedeutung der Religion<br />

seien nicht die wichtigsten; ihr Wert als eine polizeiliche Ergänzung der<br />

Strafgesetze, als eine Hilfe für Diebsfänger und Scharfrichter, werde<br />

auch von den besseren Verehrern der Religion nicht in den Vordergrund<br />

gestellt; das Hauptgewicht werde auf die Veredelung der Menschen und<br />

der Gesellschaft gelegt. Die Lehren des Evangeliums seien allerdings<br />

höher als die meisten vorher gegebenen; jetzt seien wir aber in ihrem Besitze<br />

und werden sie nicht mehr verlieren. An ihren übernatürlichen Ursprung<br />

jedoch zu glauben, sei gefährlich, weil mit der gleichen Autorität auch veraltete<br />

Lehren der christlichen Moral gestützt werden.<br />

John Stuart Mill 151<br />

Der Ursprung der Religion wird wie der der Poesie auf die Einbildungskraft<br />

und auf deren Idealisierungssehnsucht zurückgeführt. "Zu<br />

der Poesie des Übernatürlichen tritt ein positiver Glaube und die Erwartung<br />

hinzu, welche unpoetische Gemüter mit den poetischen teilen<br />

können." Es frage sich nur, ob wir auch in Zukunft mit dieser religiösen<br />

Poesie die Grenzen der bewohnten Welt überschreiten müssen; die epikureische<br />

Vorschrift, die irdische Gegenwart zu genießen, wenn auch im<br />

geistigsten Sinne, genüge dem Traume von unendlicher Glückseligkeit nicht;<br />

aber eine gewisse praktische Ewigkeit lasse sich auch durch ein anderes Mittel<br />

vorstellen, als durch den Glauben an ein Jenseits: durch das Ideal der<br />

Menschheit, durch das Pflichtgefühl gegen die Menschheit. Das sei eine<br />

bessere Religion als eine von denen, welche gewöhnlich so genannt werden.<br />

"Ich behaupte, daß dieses Prinzip nicht nur imstande wäre, die religiösen<br />

Funktionen zu erfüllen, sondern daß es sie besser erfüllen würde als irgendwelche<br />

Form des Supranaturalismus." Die hergebrachten Religionen<br />

gründen sich selbst bei den Verheißungen des Jenseits auf die menschliche<br />

Selbstsucht und erkaufen ihre sittlichen Wirkungen mit dem Verlangen,<br />

daß auf die geistigen Fähigkeiten verzichtet werde. Was diesen<br />

zweiten Punkt betrifft, so fordere die Anbetung des Schöpfers eine Verfälschung<br />

des natürlichen Gefühls. „Das trifft im höchsten Maße zu<br />

bei dem Christentum, da der Urheber der Bergpredigt sicherlich ein viel<br />

gütigeres Wesen ist als der Urheber der Natur; aber unglücklicherweise<br />

ist der gläubige Christ genötigt, anzunehmen, daß dasselbe Wesen der<br />

Urheber beider sei." Allerdings könne man den Widerspruch scheinbar<br />

lösen, indem man sowohl im Evangelium als in der Natur nur das Schöne<br />

betrachte und vor dem Übrigen die Augen schließe; man müsse also entweder<br />

den Verstand oder das Gewissen zum Schweigen bringen. „Sowohl<br />

von Sekten wie von Individuen kann man fast immer behaupten:<br />

je besser ihre Logik, desto schlechter ihre Moral."<br />

Endlich sei auch die Vorstellung von einem Leben nach dem Tode<br />

kein Vorzug der Religion. Was diese lehre, verführe nur die Unglücklichen.<br />

Wenn Mills Naturreligion der Humanität ebenso oder noch eifriger gepflegt<br />

würde wie die übernatürlichen Religionen, so würden die sittlich<br />

gebildeten Menschen zwar das irdische Leben gern verlängern, würden aber<br />

im Geiste immer das Leben ihrer Nachkommen mitleben; umgekehrt sei es<br />

eine Tatsache, daß auch die Gläubigen das irdische Dasein mit großem Widerstreben<br />

verlassen, oft mit größerem Widerstreben als die Ungläubigen.<br />

Bei geistigem und materiellem Fortschreiten der Menschheit werde das<br />

höhere Individuum möglicher- und sogar wahrscheinlicherweise in der Unsterblichkeit<br />

eine bedrückendere Vorstellung erblicken, als in der Vernichtung.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!