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Band 4 - m-presse

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270 Viertes Buch. Siebenter Abschnitt<br />

Künstler und Betrachter auch in der Malerei nicht mehr fehlt; bei T. T. Heine<br />

sind der Herrgott und die lieben Engelein in einer gottlosen Zeit wieder<br />

lebendige Symbole geworden.<br />

Wir sind so frei geworden, daß wir auf die Kritik und auf den Spott<br />

verzichtet haben.<br />

Leute von Als Gottfried Keller in der Vollkraft seiner Weisheit und seines bewußten<br />

Humors stand, hat er seine Meinung über Göttliches und Religiöses<br />

niedergelegt in einem der wundersamsten Märchen der "Leute von Seldwyla";<br />

im zweiten Teile (1873), der den ersten an süßer Reife fast noch übertrifft;<br />

in der Novelle "Das verlorene Lachen". Wie in der köstlich überlegenen<br />

Einleitung zu diesem zweiten Teile, so steckt in den Erzählungen<br />

selbst etwas wie eine Ehrenrettung der früher derb verlachten Seldwyler.<br />

Sie sind all mit ihrer Narrheit vielleicht doch die besseren, die lieberen<br />

Menschen gegenüber den übrigen Schweizer Nützlichkeitsphilistern. Besonders<br />

in "Das verlorene Lachen" siegt der unverständige Seldwyler<br />

Jukundi über die Tochter der Stauffacherin, die überaus tüchtige Justine;<br />

er erweist sich als der zuverlässigere, als der selbständigere, nicht zuletzt<br />

im religiösen Kampfe. Mit unendlicher Zartheit wird der Bruch des Ehepaars<br />

und dann wieder die Aussöhnung an Entdeckung und Schlichtung<br />

religiöser Gegensätze geknüpft. Justine ist unfrei, im Leben wie im Glauben;<br />

im Urteil über ihren Mann abhängig von den Anschauungen ihrer entsetzlich<br />

achtbaren Familie, ihres Kreises, sucht sie auch Anschluß an irgendeine<br />

kirchliche Gemeinschaft, an eine Sekte, und merkt nicht, daß der "moderne"<br />

Pfarrer ihrer Gemeinde nicht besser ist als ein Heuchler aus dem<br />

orthodoxen Lager, daß er ein Betrüger und Worthändler ist; Jukundi<br />

dagegen ist ganz frei, er hat religiöse, aber gar keine kirchlichen Bedürfnisse.<br />

Es geht an, Jukundis Glaubensbekenntnis für Kellers letztes Glaubensbekenntnis<br />

zu nehmen.<br />

Zu diesem Glaubensbekenntnis gehört nicht, nur ein Niederschlag<br />

von Feuerbachs Theo-Anthropologie ist, was Jukundi der frommen Großmutter<br />

vorredet: das Gefühl, als ob zuletzt alle um alles wüßten in der<br />

ungeheuern Republik des Universums, welche nach einem einzigen und<br />

ewigen Gesetze lebt (S. 272); Keller mußte die Vermenschlichung durchschauen,<br />

mit der der Allgemeinheit (wie von den Rechtgläubigen ihrem<br />

Gotte) ein Gehirnwissen zugesprochen wird. Und Keller will auch dieses<br />

„Spiel mit dem Namen Gottes" offenbar nicht ernst genommen wissen,<br />

da er seinen lachenden Jukundi sonst nicht sagen lassen könnte: Wohl möglich,<br />

daß in der ungeheuern Republik des Universums zuweilen ein Bürgermeister<br />

gewählt wird und "somit unser Herrgott eine Art Wahlkönig ist"<br />

(S. 273). Was Keller glaubt, das äußert sich deutlich in der grimmigen Dar­<br />

"Das verlorene Lachen" 271<br />

stellung des modernen, fast schon deistischen oder protestantenvereinlerischen,<br />

eigentlich Feuerbachschen Pfarrers. Dieser ist ein Schüler der „neuen<br />

Philosophen, welche ihre Stichwörter wie alte Hüte von einem Nagel zum<br />

anderen hingen"; er spricht ihre verwegenen Redensarten nach und<br />

hält es mit den unbescheidenen Priestern, die immer das Neuste mitmachen<br />

wollen, die sich —mit schweren Waffen rüsten und sich auf die äußersten<br />

Zweige des Baumes hinaus setzen, von wo sie einst mit großem Klirren<br />

herabfallen werden (S. 280). Der Pfarrer gibt der Wissenschaft zu, daß<br />

ein persönlicher Lenker der Welt und hierüber eine Theologie nicht mehr<br />

bestehen könne, verlegt aber die Religion in die Ahnung und wagt es dabei,<br />

über Unwahrhaftigkeit auf der Kanzel zu klagen. Ebenso unverschämt<br />

verbindet er eine Leugnung der Unsterblichkeit und andere Gottlosigkeiten<br />

mit der Forderung: der Bürger müsse einer Kirche angehören und sich<br />

den Geistlichen als den Verwaltern des Heiligtums unterordnen. Auf diese<br />

Anmaßung nun antwortet Jukundi (S. 290): "Ich glaube nicht, daß eure<br />

Theologie dadurch (durch Anlehnung an mancherlei Wissensgebiete) den<br />

Charakter einer lebendigen Wissenschaft wieder gewinnt, so wenig als die<br />

ehemalige Kabbalistik, die Alchimie oder die Astrologie noch eine solche<br />

genannt werden könnte ... Es handelt sich einfach darum, daß wir nicht<br />

immer von neuem anfangen dürfen, Lehrämter über das zu errichten,<br />

was keiner den anderen lehren kann, wenn er ehrlich und wahr sein will,<br />

und diese Ämter denen zu übertragen, welche die Hände danach ausstrecken."<br />

Der Pfarrer bricht nachher (als er das Heiratsgut seiner Frau verspekuliert<br />

hat) zusammen und muß bekennen: er sei kein Christ, er habe im Leben an<br />

Jesus Christus kaum noch gedacht, oder doch nur mit dem hochmütigen<br />

Sinn eines Schutzherrn, der sich etwa eines armen Teufels annimmt und<br />

ihm im Vertrauen sagt: "Lieber, du machst mir viele Mühe!" (S. 313).<br />

Dieser Pfarrer wird dann auch am Schlusse der Novelle mit einem Peitschenhiebe<br />

heimgeschickt; er hat sich in einem weltlichen Geschäfte geriebener<br />

und brauchbarer gezeigt als der unpraktische Seldwyler Jukundi: "Denn<br />

er, der Pfarrer, glaubte nicht leicht, was ihm einer vorgab."<br />

Ganz ohne Zweifel kommt bei dieser Abkehr von den Verschwommenheiten<br />

der Feuerbachschen Schule auch das Sauberkeitsbedürfnis zu Worte,<br />

das den tapferen Lessing gelegentlich gegen die protestantischen Aufklärer<br />

schreiben ließ, das die Besten unter uns von dem dogmatischen Materialismus<br />

eines Haeckel trennt; der Pfarrer, der an keine Unsterblichkeit der<br />

Seele glaubt und dennoch den Kranken im letzten Stündlein "selbstverfaßte,<br />

pantheistisch klingende Sterbegebete" aufsagt (S. 315), mag bei Keller<br />

geradezu einen körperlichen Widerwillen erregt haben. Gläubig ist aber<br />

Keller so wenig wie Lessing. Das erhellt aus dem, was Justine weiter

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