Band 4 - m-presse
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432 Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />
in der Kette der sogenannten Kausalität nur eine Reihe von zeitlichen<br />
Folgen zu erblicken, nicht eine Reihe von wirkenden Ursachen. Ich glaube<br />
die Entdeckung Humes dem Verständnisse jetzt etwas näher zu bringen,<br />
wenn ich das Geschehen nicht als eine Folge von Gruppen betrachte, die<br />
dann vom zusammenfassenden Menschenverstande als Ursachen und Wirkungen<br />
geordnet werden, sondern als eine Folge von unendlich kleinen<br />
Änderungen in unendlich kleinen Zeiten. Mir will scheinen, daß der Ursachbegriff<br />
gegenüber dem Differential keinen rechten Sinn mehr habe.<br />
So unterschieben wir dem Falle der Körper eine mythologische Ursache, eine<br />
Gottheit, die Schwerkraft; aber kaum wird man die Beschleunigung des<br />
Falls in irgendeinem Zeitdifferential eine Ursache der Beschleunigung<br />
im nächsten Zeitdifferential nennen; die Gottheit Schwerkraft waltet als<br />
einzige Ursache über dem ganzen Vorgang, als Schöpferin und als Vorsehung.<br />
Noch deutlicher wird die Unangemessenheit des menschlichen<br />
Ursachbegriffs, wenn wir uns das Weltganze vorstellen und den gegenwärtigen<br />
Zustand als eine Folge des Weltzustandes im vorausgegangenen<br />
Zeitdifferential beschreiben wollen; da wird das Weltgeschehen zu einem<br />
ungeheuern Strome, zu dem Strome der dreidimensionalen Dinge in<br />
der vierten Dimension, der Zeit; für den Ursachbegriff bleibt nicht Raum<br />
und nicht Zeit übrig, man wollte denn — wie ich es phantastisch genug<br />
versucht habe — die Zeit selbst als eine Energieform oder eine wirkende<br />
Ursache verdinglichen.*)<br />
Die neue Naturwissenschaft, die seit Kirchhoff die Naturerklärung<br />
mit stolzer Bescheidenheit auf eine Naturbeschreibung beschränken will,<br />
hat unbewußt oder doch nur halb bewußt die Gedanken Humes und Kants<br />
aus der Philosophie in die Physik hinübergetragen; auf Erklärung verzichten<br />
heißt: den Ursachbegriff nur noch als regulatives Prinzip des Denkens<br />
anerkennen. Nun ist es der Naturwissenschaft vollständig oder teilweise<br />
gelungen, die Einheit zwischen manchen Untergottheiten herzustellen, die<br />
früher für die selbständigen Ursachen mächtiger Naturerscheinungen galten;<br />
man nennt es ein Gesetz, es ist aber wieder nur eine Beschreibung, daß<br />
Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus und wahrscheinlich auch Schwerkraft<br />
nur verschiedene Formen einer und derselben unbekannten Energie<br />
sind, dieser unbekannten Gottheit. Die Umwandlung in Lebenskraft und<br />
*) Es ist sonst nicht meine Gewohnheit, den Entlehnungen nachzuspüren, mit denen<br />
meine Bücher geehrt worden sind, oder mich darauf zu berufen, daß ich einen Satz früher<br />
ausgesprochen hätte als andere. Um aber nicht eines Tages als ein Nachschreiber verdächtigt<br />
zu werden, möchte ich hier doch erwähnen, daß ich die Vorstellung von der Zeit<br />
als einer vierten Dimension schon in meiner "Kritik der Sprache" vorgetragen (und kritisiert)<br />
habe, im Jahre 1901. Und bereits damals auf Vorgänger verweisen konnte, die<br />
den Begriff einer vierten "Dimension" gefaßt hatten.<br />
Kosmologischer Gottesbeweis 433<br />
in Geisteskraft ist noch gar nicht gelungen; der aufrichtige Forscher muß sogar<br />
zugestehen, daß die beiden letzten Erscheinungsgruppen an sich noch gar<br />
nicht "beschrieben" worden sind und daß wir uns von irgendeinem Zusammenhange<br />
zwischen ihnen und den besser beschriebenen Energieformen<br />
überhaupt noch keine Vorstellung machen können. (Was der materialistische<br />
Monismus eben verkennt.) Doch der dogmatische und materialistische<br />
Monismus ist darin einig mit unserer gottlosen Mystik, daß die Welterklärung<br />
des ersten und das Weltgefühl der zweiten, beide, die Hoffnung hegen,<br />
früher oder später zu einer Weltbeschreibung zu gelangen, in welcher die<br />
Umwandlung des Einen, das vorläufig Energie heißt, auch auf die Lebenserscheinungen<br />
und auf die sogenannten seelischen Erscheinungen ausgedehnt<br />
werden wird. Nur daß der Monismus heimlich dabei bleibt, eine sinnlich<br />
wahrnehmbare Grundform aller Energien zu kennen, während er sich<br />
offiziell vom Stoffe als der ersten Ursache losgesagt hat; nur daß die gottlose<br />
Mystik, frei von allen Dogmen, ehrfurchtsvoll ihre docta ignorantia<br />
bekennt. Insofern der Monismus den Stoff, und wäre es auch stoffliche<br />
Energie, zur letzten oder ersten Ursache macht, ist er unserer Mystik der<br />
Feind, der wegen seiner moderneren Waffen gefährlicher ist als die alte<br />
scholastische Kirche; insofern der Monismus aber den kirchlichen Gott aus<br />
den Denkgewohnheiten des Menschen zu reißen bestrebt ist, wird er zu<br />
einem Bundesgenossen unserer Mystik. Denn darüber wollen wir uns<br />
nicht täuschen: der Gottesname hat eine geschichtliche Macht des Wortes,<br />
die auch wir pietätlos bekämpfen müssen.<br />
Ein ganz anderes Buch als diese Geschichte der Gottlosigkeit, eine Geschichte<br />
noch niemals versuchte Geschichte Gottes könnte vielleicht darstellen, wie<br />
der Gottesname zu seiner Macht gelangt ist. Der Anfang dieser Geschichte<br />
Gottes ist ganz gewiß die Vermenschlichung, also Vergöttlichung natürlicher<br />
Ursachen gewesen; das Ende dieser Geschichte ist ganz gewiß die Auflösung<br />
der ersten übernatürlichen Ursache in eine Zahl oder ein System natürlicher<br />
Ursachen. Der alte Gott ist nicht mehr zu retten; er stirbt, wie er einst seine<br />
Ahnen umgebracht hat, die Götter des Polytheismus. Die sogenannten<br />
Heiden setzten über die wichtigsten Naturerscheinungen, bestenfalls über die<br />
kindisch angenommenen Elemente besondere Götter; hätten sie dabei in<br />
den Naturwissenschaften bis dorthin fortschreiten können, wo heute unsere<br />
Oberlehrer stehen, so hätten sie wahrscheinlich über die einzelnen Gebiete<br />
der Physik besondere Götter gesetzt. Und wären mit dieser Sprache kaum<br />
unweiser gewesen als wir, die wir die mythologischen Namen Schwerkraft,<br />
Elektrizität, Wärme usw. gebrauchen und zu verstehen glauben. (Man<br />
erinnere sich des Mythos Atheos im Buche von Leopold Ziegler.) So angesehen,<br />
gewinnt der abendländische Monotheismus, insoweit er überhaupt