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Band 4 - m-presse

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340<br />

Viertes Buch. Reunter Abschnitt<br />

Lew N. Tolstoi 341<br />

Moral dazu verpflichtet, eine neidlose Freude an der Schaffenskraft einer<br />

neuen Jugend zu empfinden. Tolstoi ist uns kein Heiliger, aber er bleibt<br />

Tagebuch uns dennoch, der er war. Ich bedaure nur, daß das "Tagebuch", das für<br />

seine Stellung zur Religion noch aufschlußreicher ist als der Briefwechsel<br />

und scharf zu erhalten hätte.*) Nur daß dieser Gott kein persönliches<br />

Wesen ist, wir uns ihn aber, wenn wir seine Einzigkeit nicht aufgeben<br />

wollen, persönlich vorstellen. Hier liegt die Wurzel des Anthropomorphismus.<br />

mit der Base Alexandra, vorerst (in der deutschen Ausgabe) nur in dem<br />

Auch der strengste Agnostiker bekennt Gott, wenn er nicht leugnet,<br />

<strong>Band</strong>e vorliegt, der die Aufzeichnungen des Greises umfaßt, von 1895<br />

daß das Leben einen Sinn habe. (Wenn aber diese Frage falsch gestellt<br />

bis 1899. Der Verfasser ist so ehrlich, wie ein berühmter Schriftsteller<br />

ist, wie die Frage nach dem Dasein Gottes? Was dann? Tolstoi redet<br />

nur irgend sein kann; aber man wird das Gefühl nicht los, er trage da nur<br />

vom Sinne des Lebens gläubig wie ein Dogmatiker.) Ein solches Be­<br />

seine, der ganzen Welt schon bekannte, Religionsphilosophie vor, er sei<br />

nur selten imstande, wie einst, die augenblickliche Stimmung in Worte zu<br />

fassen. Er ist wie hypnotisiert durch sein vergangenes Lebenswerk. Was<br />

früher ein Kampf des Gottsuchers mit der Weltlust gewesen war, ist fast<br />

nur noch ein peinigender Kampf des Denkers mit dem sprachlichen Ausdrucke.<br />

Und Tolstoi fühlt das, „er fühlt, daß er abstirbt, und weiß sich dort,<br />

wo er sein neues Leben leben wird, noch nicht." Sein Glaubensbekenntnis<br />

ist wirr; er steht außerhalb der Kirche, selbstverständlich, doch er steht<br />

auch außerhalb der Christenheit und außerhalb der Gemeinschaft der Kinder<br />

Gottes. Der Religionsstifter weiß nicht, was sein Gott ist. Ich will mich<br />

darauf beschränken, nach dem Tagebuche zu berichten, wie dieser letzte ehrliche<br />

Evangelist herumtastet und herumstottert, da er seinen Gott zu begreifen<br />

sucht. Es wird sich wohl ergeben, daß Tolstoi ein gottloser Mystiker<br />

war, aber nicht bewußt genug, um auf den Gottesnamen zu verzichten.<br />

„Gott ist das Verlangen nach dem Wohle alles Lebendigen; aber dieses<br />

Verlangen, das in mir ist, kann unmöglich Gott selber sein; es kann nur<br />

eine seiner Offenbarungen sein." (Es wäre mir ein leichtes, diesen scheinbaren<br />

Gedanken auf die hübsche Tautologie zurückzuführen: das All ist<br />

kenntnis des Agnostikers ist viel stärker als der Glaube an einen Weltschöpfer<br />

und was sonst die Autorität der Bibel und andere Autoritäten an dummen<br />

und sogar verruchten Absurditäten zu glauben vorschreibt. Gott offenbart<br />

sich im Leben. Plötzlich einmal, im Sommer 1897, hat Tolstoi das deutliche<br />

Gefühl von Gott: daß er in Gott sei; das Gefühl sei sehr lebhaft gewesen,<br />

er könne es aber nur schrecklich schlecht und unklar ausdrücken. Er<br />

glaubt nicht an den Weltschöpfer des Alten Testaments, auch nicht an den<br />

Gottessohn des Neuen Testaments, und gelte darum für einen Gottesleugner;<br />

er glaube an das All-Eine, an den Urquell alles Daseins. Die<br />

positive Religion, die die Leute vor einem Heiligenbilde auf den Knien<br />

rutschen läßt, flößt ihm Entsetzen ein. „Wenn man die Menschen so weit<br />

bringen konnte, dann gibt es keinen Betrug, dem sie nicht erliegen." Christus<br />

ist ein Mythos; eine Hauptursache des Übels ist der unserer christlichen<br />

Welt eingeimpfte Glaube an den ungeschlachten Judengott, der persönlich<br />

ist (S. 255). „Wie müßte sich Gott, wenn es einen Gott gäbe, zu dem man<br />

beten könnte, Bitten gegenüber verhalten? So wie sich ein Hauswirt verhalten<br />

müßte, zu dem die Hausbewohner in einem Hause mit Wasserleitung<br />

kommen und um Wasser bitten würden. Ihr müßt nur den<br />

Hahn aufdrehen" (S. 257).<br />

das All.)<br />

Daß Gott die Welt erschaffen habe, ist ein absurder Aberglaube; Gott<br />

lebt durch den Menschen, der nicht tierisch lebt. Gebet ist wirkungslos, ist<br />

nur ein gehobener Seelenzustand. „Man wendet sich im Gebet an einen<br />

persönlichen Gott, nicht weil Gott ein persönliches Wesen ist — ich weiß<br />

sogar bestimmt, daß er das nicht ist —, sondern weil das Ich ein persönliches<br />

Wesen ist. Durch eine grüne Glasscheibe sehe ich alles grün" (S. 61).<br />

Die Quelle alles Übels ist, an die Vernunft nicht zu glauben; und dieses<br />

Mißtrauen gegen die Vernunft wird hervorgerufen durch den Unterricht<br />

im Glaubenstrug, zu dem wir von Kind auf angehalten werden. „Glaube<br />

an ein Wunder, und alles Vertrauen, das man in die Vernunft haben<br />

kann, hört plötzlich auf." Und doch ist der Mensch ein Werkzeug, mit dem<br />

nicht der Mensch selbst arbeitet, sondern Gott; der Mensch hat nur die<br />

Aufgabe, sich in Ordnung zu halten, wie ein Beil, das sich immer rein<br />

Es ist rührend, an vielen Stellen des Tagebuches zu lesen, wie Tolstoi<br />

das Erlöschen seiner körperlichen und geistigen Kräfte beobachtet und sich<br />

— bald tapfer, bald wehleidig — auf den Tod vorbereitet; es ist aber zugleich<br />

belehrend, daß in seiner Lebensphilosophie wie in seiner besten<br />

Todbereitschaft seine persönliche Religion ihm nicht mehr bedeutet als der<br />

Kirchenglaube der Menge; wenn er (S. 148) sich nach einem Trost im<br />

Kummer umschaut, so fällt ihm sein Gott gar nicht e r s t ein. Und hierin<br />

unterscheiden sich denn doch die religiösen Schriften, die er etwa um die<br />

gleiche Zeit herausgegeben hat, von dem Tagebuche. Tolstoi wird nirgends<br />

geradezu unehrlich; aber er schlägt einen priesterlichen Ton an und unter­<br />

*) Tolstoi hat dieses Bild oft gebraucht, mit immer neuen Abänderungen. "Wir<br />

haben Gottes Geist; aber wir benützen seinen Geist, um uns selbst zu dienen, und verwenden<br />

so das Beil zum Zuspitzen des Beilstiels."

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