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Band 4 - m-presse

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46 Drittes Buch. Dreizehnter Abschnitt<br />

erstaunlich keck so formuliert: Spinozas System sei beides, schwer zu widerlegen<br />

und zu vermeiden. Über den eigentlichen Atheismus spricht er<br />

(Aphorisma 934) so parteilos, wie nur ein Skeptiker es vermag: die<br />

spekulative Metaphysik sei gleichgültig gegen Theismus und Atheismus.<br />

Nur so weit steht Platner im Banne der damals schon totgeweihten Aufklärung<br />

und ihres Tugendgeschwätzes, daß er — hundert Jahre vor Nietzsche<br />

— den moralischen Skeptizismus für unmöglich erklärt (714).<br />

Die Zeitgenossen haben gegen Änesidemus-Schulze und gegen Platner<br />

einen ganz ungleichen Ton gefunden; Platner, der selbst nicht hart war,<br />

wurde freundlich behandelt, Schulze von Schelling selbst (in dem „Kritischen<br />

Journal der Philosophie", herausgegeben von Schelling und Hegel<br />

1802) gröblich und maßlos beschimpft. Aus unserer Entfernung gesehen,<br />

haben sie beide das nicht geringe Verdienst, in dem dogmatischen Deutschland<br />

den Skeptizismus Humes verkündet zu haben, unbeirrt von den<br />

Kompromissen Kants. Platner war größer als seine Schriften, weil er<br />

nicht verletzen wollte, so ungefähr ein Wieland der Philosophie; Schulze<br />

rücksichtslos in der Sache, in der Form maßvoll, aber nur, weil er kein<br />

Sprachgenie war wie sein Schüler Schopenhauer.<br />

Platner und Schulze waren fertige philosophische Schriftsteller, als<br />

Kants Kritizismus durch Reinholds Propaganda in Deutschland verbreitet,<br />

fast eine Mode wurde; sie waren beide aufnahmefähig genug, den neuen<br />

Geist zu fassen, beide zu selbständig, um die Mode mitzumachen. In dem<br />

jüngeren Geschlechte erwuchs inzwischen eine Schule, man könnte auch<br />

sagen eine Sekte der Kantianer; unter diesen gab es sehr bald, wenn auch<br />

nicht so scharf zu scheiden wie ein Menschenalter später bei den Hegelianern,<br />

eine Partei der Linken, eine atheistische Gruppe. Bevor ich auf den vielgenannten<br />

Atheismusstreit eingehe, der einen Schatten wirft auf Fichte<br />

und für einen Augenblick auch auf Goethe, muß ich — auch der Zeit nach —<br />

einen fast verschollenen deutschen Philosophieprofessor nennen, den unglücklichen<br />

Karl Heinrich Heydenreich, der viel populärer und lärmender<br />

den Atheisten spielte, beinahe so unzeitgemäß wie mehr als hundert<br />

Jahre vorher der tolle Knutsen. Heydenreich entsprach leider in seinem<br />

ungeordneten Privatleben völlig dem Bilde, das die Geistlichen nach wie<br />

vor von gottlosen Menschen an die Wand malten. Aber er besaß eine recht<br />

gute philosophische Schulung und hätte, wenn er anders nicht von Schulden,<br />

Weibern und Alkohol aufgerieben worden wäre, ein Führer der Links-<br />

Kantianer werden können. Wir hätten uns noch viel eingehender mit<br />

Heydenreich zu beschäftigen, als wir zu tun vorhaben, wenn er als Religionsphilosoph<br />

und als Reformator der Pädagogik gehalten hätte, was<br />

seine Anfänge versprochen hatten.<br />

Heydenreich 47<br />

Sie waren kleinere Baumeister als Kant, auch kleinere Geister, sie<br />

waren aber in ihrer Tapferkeit einfacher, die Philosophen, die den Gott,<br />

den Kant durch die Tür der Metaphysik hinausgeführt und durch die Tür<br />

der Moral wieder hereingeführt hatte, nicht anerkennen wollten. Als 1794<br />

ein Geistlicher zu Paris zum Tode verurteilt war und sein republikanischer<br />

Beichtiger ihm sagte, nach einer Stunde stünde er vor Gott, soll der Abbé<br />

des ancien régime geantwortet haben: "Ich bin neugierig, ob er bei näherer<br />

Bekanntschaft gewinnt." Kant hatte versprochen, den unbekannten Gott<br />

der reinen Vernunft durch den der allgemein geläufigen praktischen<br />

Vernunft oder der Moral zu ersetzen; einige Schüler Kants waren ebenso<br />

neugierig wie der Abbé.<br />

Von diesen ist Fichte der mit Recht weitaus berühmtere. Aber schon<br />

vor dessen Atheismusstreit hatte der heute vergessene Philosoph Heydenreich<br />

Kants Religionskritik zu Ende gedacht und einen erkenntnistheoretischen,<br />

richtiger einen gefühlsmäßigen Atheismus formuliert, der über alle materialistische<br />

oder antimoralische Atheisterei der Aufklärungszeit hinausging.<br />

Wenn das bisher noch nicht beachtet worden ist, wenn dieser Selbstdenker,<br />

Karl Heinrich Heydenreich, in den Handbüchern der Philosophiegeschichte<br />

unter den kleinen Kantianern oder gar (von Noack) unter den wässerigen<br />

Religionspredigern, bestenfalls unter den Verehrern Spinozas aufgezählt<br />

wird, so mag das daran liegen, daß auch Heydenreich wie so viele andere<br />

seine kühnsten Gedanken in einem "Briefwechsel" versteckte und das radikal<br />

atheistische System des einen Briefschreibers durch die Gegengründe des<br />

anderen bekämpfen ließ. In einer langen Reihe von großen und kleinen<br />

Schriften hatte Heydenreich allerdings exoterisch die Modephilosophie<br />

vorgetragen und über Gott und die Welt gelehrt, was gerade gern gehört<br />

wurde; in seinen „Briefen über den Atheismus" ließ er die eine Partei<br />

esoterisch ohne Rückhalt einen vollendeten Atheismus auseinandersetzen.<br />

Feiner eigentlich, als es ein halbes Jahrhundert später Schopenhauer<br />

in seinem Dialoge „Über Religion" getan hat; Heydenreich ist auch darin<br />

einmal ein Vorgänger Schopenhauers gewesen, daß er eine Übersetzung<br />

von Gracians „Orakel der Weltklugheit" herausgab, die, ebenso wie die<br />

bekannte von Schopenhauer, erst zwei Jahre nach dem Tode des Philosophen<br />

herauskam. Schopenhauer lernte die Arbeit Heydenreichs erst nach<br />

Vollendung seiner eigenen kennen, nannte sie die beste vorhandene; sie<br />

wäre aber dennoch sehr schlecht, weil sie nicht nach dem spanischen Original,<br />

sondern nur nach der alten und elenden französischen Übersetzung von<br />

Amelot de la Houssaie hergestellt war.<br />

Karl Heinrich Heydenreich wurde 1764 in Sachsen geboren und starb<br />

1801, nur siebenunddreißig Jahre alt. R. G. Schelle hat ein Buch über

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