Band 4 - m-presse
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346 Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />
sein wollte. Feuerbach hat ihn beeinflußt wie den schweizerischen Dichter<br />
Gottfried Keller; doch Burckhardt wieder hat, in noch stärkerem Maße,<br />
den jungen und noch unreifen Nietzsche beeinflußt, der als Professor der<br />
Philologie mit Hingebung und Begeisterung Burckhardts Kolleg über das<br />
Studium der Geschichte hörte, das später unter dem Titel "Weltgeschichtliche<br />
Betrachtungen" herausgegeben worden ist.<br />
Burckhardt war kein "Fachmann", der sich in seiner Jugend von einem<br />
älteren und berühmteren Fachmann ein erfolgversprechendes Wissensgebiet<br />
zuweisen läßt und es dann bis an sein Lebensende sorgsam beackert<br />
und ausbeutet; es war kein Zufall, daß er der Geschichtschreiber der beiden<br />
Zeitepochen wurde, in denen Theologie stumm war: die Kultur der Griechen<br />
war frei von jeder Art von Theologie, und die Kultur der Renaissance war<br />
dadurch ausgezeichnet, daß sie zum ersten Male bewußt die Befreiung<br />
von der christlichen Theologie in Angriff nahm. Der Philosoph, dem Burckhardt<br />
zumeist folgte, war Schopenhauer, und darum verhielt er sich gegen<br />
seinen jungen Kollegen und Schüler Nietzsche immer höflich und leise<br />
ironisch, als dieser mit seinen eigenen Verwegenheiten hervorzutreten<br />
begann; Nietzsches Liebeswerben um Burckhardt war vergeblich, obgleich<br />
beide über Griechentum und Christentum kaum verschieden dachten. Burckhardt<br />
hatte nicht alle Anschauungen Schopenhauers übernommen; er<br />
hätte sonst nicht den schönen Irrtum begehen können, überall den Gesetzmäßigkeiten<br />
der Weltgeschichte nachzuspüren; darin aber blieb Burckhardt<br />
ein getreuer Anhänger Schopenhauers, daß er über die Menschennatur<br />
pessimistisch urteilte und der Religion, insbesondere dem Christentum,<br />
keine günstige Wirkung auf die Sittlichkeit zuerkannte. In seinem Kolleg<br />
über das Studium der Geschichte spricht er einmal davon, wie die Kultur<br />
sich vom Kirchenglauben befreit habe; da sagt er: "Die Religionen stützen<br />
sich in ihren späteren Zeiten gern auf die Moralen als ihre angeblichen<br />
Töchter; allein dagegen erhebt sich sowohl theoretisch die Doktrin einer<br />
vom Christentum unabhängigen, rein auf die innere Stimme begründeten<br />
Sittlichkeit, als auch praktisch die Tatsache, daß im großen und ganzen die<br />
heutige Pflichtübung enorm viel mehr vom Ehrgefühl und vom eigentlichen<br />
Pflichtgefühl im engeren Sinne, als von der Religion bestimmt wird.<br />
Deutliche Anfänge hiervon treten seit der Renaissance zutage. Das künstliche<br />
Neupflanzen von Christentum zum Zwecke der guten Aufführung<br />
aber war immer völlig vergeblich." Diese Sätze haben nicht die hinreißende<br />
dichterische Kraft von Nietzsches Aphorismen; aber sie entziehen mit ruhiger<br />
Rücksichtslosigkeit den neueren Religionsrettungen die beliebte Berufung<br />
auf die Moral und hätten dem alten Gerede ein Ende machen können,<br />
dem Volke wenigstens müßte die Religion erhalten werden. Bei dem<br />
Friedrich Nietzsche 347<br />
"künstlichen Neupflanzen von Christentum" dachte Burckhardt wahrscheinlich<br />
an den liberalen Protestantismus (auch den von Basel), an die Nachfolger<br />
von Schleiermacher; uns klingen die Sätze heute so, als wären<br />
sie mit ihrer Spitze unmittelbar gegen die Unwahrheit des Euckenschen<br />
Christentums gerichtet. Als wäre da der weit ältere und reifere Burckhardt<br />
ein Schüler des jungen Nietzsche gewesen.<br />
Im Jahre 1886, noch in der Vollkraft seines bohrenden Geistes, hat Nietzsche<br />
Nietzsche die Schrift herausgegeben und als das "Vorspiel einer Philosophie<br />
der Zukunft" bezeichnet, die schon im Titel und dann in einigen<br />
Stücken das Ganze seiner neuen Lehre bringt, natürlich auch sein Antichristentum,<br />
das womöglich noch stärker war als sein Atheismus. Die zum<br />
geflügelten Worte gewordene Überschrift „Jenseits von Gut und Böse"<br />
wäre weniger mißverstanden worden, wenn er das altbekannte Fremdwort<br />
nicht vermieden, wenn der Immoralist gesagt hätte "Jenseits von<br />
jeglicher Moral". Von den Vorurteilen der Philosophen ist da zunächst<br />
die Rede: daß die Falschheit eines Urteils noch kein Einwand gegen dieses<br />
Urteil sei, daß die Unwahrheit lebensfördernd sein könne. Dann wird<br />
aber doch die Wahrheit gesucht, die des wahrhaft freien Geistes, oft mit<br />
der verletzenden Redlichkeit eines Kynikers. Und eine solche Methode im<br />
dritten Hauptstück auf die Ergründung des religiösen Wesens angewandt.<br />
Als Philologe ist Nietzsche so kritisch, daß ihm die Bibel, die Zusammenleimung<br />
des Alten und des Neuen Testaments zu Einem Buche, als die<br />
größte Verwegenheit erscheint, die Europa auf dem Gewissen hat. Als<br />
Schüler Schopenhauers, der er immer noch bei aller Empörung gegen den<br />
Meister geblieben ist, glaubt er den Theismus gar nicht mehr ernsthaft<br />
bekämpfen zu müssen. "Warum heute Atheismus? Der Vater in Gott<br />
ist gründlich widerlegt; ebenso der Richter, der Belohner. Insgleichen<br />
sein freier Wille: er hört nicht — und wenn er hörte, wüßte er trotzdem<br />
nicht zu helfen. Das Schlimmste ist: er scheint unfähig, sich deutlich mitzuteilen.<br />
Ist er unklar?" Die gesamte neuere Philosophie seit Descartes<br />
sei ein Attentat auf den alten Ich-Begriff und schon darum antichristlich.<br />
„Vielleicht erscheinen uns einst die feierlichsten Begriffe, um die am meisten<br />
gekämpft und gelitten worden ist, die Begriffe Gott und Sünde, nicht<br />
wichtiger, als dem alten Manne ein Kinderspielzeug und Kinderschmerz<br />
erscheint ... Es gehört jetzt sehr viel guter Wille, man könnte sagen: willkürlicher<br />
Wille, dazu, daß ein deutscher Gelehrter das Problem der Religion<br />
ernst nimmt." Man neige zu einer überlegenen, beinahe gütigen Heiterkeit<br />
gegen die Religion. "Die praktische Gleichgültigkeit gegen religiöse<br />
Dinge pflegt sich zur Behutsamkeit und Reinlichkeit zu sublimieren, welche<br />
die Berührung mit religiösen Menschen und Dingen scheut; und es kann