Band 4 - m-presse
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292 Viertes Buch. Achter Abschnitt<br />
Dichtern anführt, also nicht zur Erhöhung der Beweiskraft; dabei werde<br />
aber eine grundlose Ehrfurcht vor der Bibel weiterhin aufrecht gehalten.<br />
„Durch solche Gaukeleien sucht der liberale Protestantismus den Schein der<br />
gewahrten geschichtlichen Kontinuität mit dem positiven Christentum vorzuspiegeln,<br />
während er doch mit dem Aufgeben des Offenbarungsglaubens<br />
und der Autorität der Schrift in Wahrheit diese Kontinuität unheilbar<br />
zerstört hat" (S. 63). Die liberalen Protestanten haben also kein Recht mehr,<br />
sich noch Christen zu nennen, obgleich sie von ihren Eltern der Taufe und<br />
der Konfirmation unterzogen worden sind; an Christus als einen weisen<br />
und tugendhaften Propheten glauben auch die Mohammedaner, und an<br />
den Gott, den Jesus Christus anbetete, glauben auch die Juden und die<br />
Türken. Eigentlich glauben die liberalen Protestanten, wenn sie an Christus<br />
zu glauben behaupten, nur noch an ihn als an den Stifter der christlichen<br />
Religion; an den müssen aber auch alle Nichtchristen glauben. (Wobei<br />
Hartmann überdies völlig davon absieht, daß es die christliche Religion<br />
gar nicht gibt und nie gegeben hat, daß alle Sekten, die man dann Ketzereien<br />
nannte, sich mit gleichem Rechte auf den gleichen Stifter beriefen.) Strauß<br />
hätte also die Wahrheit gesagt, als er in seinem Bekenntnisbuche behauptete,<br />
"wir" wären keine Christen mehr.<br />
Ich habe zwei Kapitel aus der Schrift Hartmanns herausgegriffen,<br />
weil darin sein Verhältnis zu der wissenschaftlichsten und freiesten Gruppe<br />
des Protestantismus deutlich wird; in den vorhergehenden vier Kapiteln<br />
beschäftigt sich Hartmann mit dem Protestantismus überhaupt und will<br />
zeigen, daß alle positiven Religionsformen für unsere gesamte Weltanschauung<br />
unerträglich geworden sind. Er hält aber an dem Gedanken<br />
fest, daß dem „Volke" der nötige Vorrat von Idealismus nur durch die<br />
Religion zugeführt werden könne; dabei denke er gar nicht daran, gegen<br />
die Grunddogmen des Christentums noch zu polemisieren: "Ich wende<br />
mich hier nur an solche Leser, welche die Kritik der letzteren bereits hinter<br />
sich haben" (S. 6). In einem kurzen Überblick über die Geschichte des<br />
Protestantismus wird sehr gut darauf hingewiesen, daß der Glaube an<br />
die Unfehlbarkeit der Bibel auf dem Glauben an die Unfehlbarkeit der<br />
Kirche beruhte, und daß die Reformatoren so von Anfang an den logischen<br />
Fehler begingen, die freie Forschung zu verlangen und der Freiheit sofort<br />
willkürliche Schranken zu ziehen. Dabei ist Hartmann insofern doch wieder<br />
selbst so sehr Protestant, daß er die katholischen Völker für geistig tot erklärt<br />
und dem Protestantismus alle Aufgaben des Kulturfortschritts zuweist;<br />
daß er kein Sprachkritiker ist, daß er von einer historischen "Aufgabe"<br />
des Protestantismus redet und von einem Ziele, einem unbewußt treibenden<br />
Zwecke des historischen Prozesses, das brauche ich bei Hartmann nicht<br />
Eduard v. Hartmann 293<br />
erst hervorzuheben. Er sieht aber ganz klar und sagt es ganz offen: "Der<br />
Protestantismus ist nichts als das Übergangsstadium vom abgestorbenen<br />
echten Christentum zu den modernen Kulturideen, die den christlichen<br />
in den wichtigsten Punkten diametral entgegengesetzt sind, und deshalb<br />
ist er durch und durch widerspruchsvoll von seiner Geburt bis zu seinem<br />
Tode, weil er sich auf allen Stufen seines Lebens mit der Vereinigung<br />
von Gegensätzen abquält, die ihrer Natur nach unvereinbar sind" (S. 15).<br />
Das Prinzip des Protestantismus mußte zur Selbstauflösung führen.<br />
Jede Religion widerstrebt einer wissenschaftlichen Behandlung; selbst<br />
die wissenschaftliche Verteidigung einer Religion gegen Angriffe ist gefährlich;<br />
denn sobald die Wissenschaft als Theologie in die Religion Eingang<br />
gefunden hat, beginnt sie wissenschaftliche Ziele mit wissenschaftlichen<br />
Mitteln zu verfolgen; heute können die berühmtesten und gelehrtesten<br />
orthodoxen Schriften dem gebildeten Leser nur noch das Gefühl des Ekels<br />
erwecken, aber auch an liberalen Theologen bewundern wir nur noch eine<br />
Emsigkeit, die die gangbaren Dogmen alles wesentlichen Inhalts zu entkleiden<br />
und ihnen doch noch irgendeinen Sinn unterzulegen sich verpflichtet<br />
fühlt, der zu dem beibehaltenen Wortlaut wie die Faust aufs Auge paßt.<br />
Wie wir keine christliche Wissenschaft mehr haben, so haben wir auch keine<br />
lebendige christliche Kunst mehr. Der Theismus, der sich vom Pantheismus<br />
unterscheiden will und an der Persönlichkeit Gottes festhält, der also<br />
den Anthropomorphismus und den Anthropopathismus nicht abstreifen<br />
kann, bleibt unvereinbar mit der modernen Bildung, welche sich (so drückt<br />
sich der Hegelianer Hartmann aus) nur noch einen der Welt immanenten<br />
Gott der ewigen Vernunftgesetze gefallen lassen kann. Von seinem verhegelten<br />
System aus tadelt also Hartmann, der Antitheologe aber nicht<br />
dogmatischer Atheist ist, daß die Unhaltbarkeit des christlichen Theismus<br />
den Atheismus in Gestalt des materialistischen Naturalismus herbeiführe;<br />
der Streit werde entweder mit der siegreichen Reaktion des Ultramontanismus<br />
enden oder mit dem Untergange des Christentums, „wenn auch nicht<br />
dem Namen, so doch der Tat nach" (S. 31). Diese ganze Darstellung hatte<br />
ihre Färbung dadurch erhalten, daß Hartmann seine Schrift während des<br />
sogenannten Kulturkampfes verfaßte und die Bedeutung dieser politischen<br />
Händel überschätzte.<br />
Die Reformation sei der Fiktion der römischen Kirche entgegengetreten,<br />
als ob alle Konzilsbeschlüsse nur Definitionen der ursprünglichen<br />
christlichen Lehre gewesen wären; aber die Reformation sei selbst immer<br />
reaktionär geblieben, habe im Zurückgreifen auf eine bestimmte Zeit der<br />
Entwicklung selbst eine Fälschung begangen und bald den paulinischen, bald<br />
den johanneischen (Luther und Spener) Lehrbegriff an die Stelle der