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Band 4 - m-presse

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140 Viertes Buch. Vierter Abschnitt<br />

betrifft; auch wissen wir ja, daß der Hauptsturm gegen alle positiven<br />

Religionen, der Deismus, erst von England nach Frankreich kam und<br />

daß der leichtere Skeptizismus der Franzosen erst durch den Engländer<br />

Hume seine schwersten Waffen erhielt. Mir scheint die entscheidende Ungleichheit<br />

zwischen Frankreich und England im öffentlichen Geiste zu liegen,<br />

bescheidener ausgedrückt: in der öffentlichen Meinung; die ist wirklich,<br />

obgleich es bei uns immer wieder gesagt wird, in Frankreich frivol, in<br />

England ernst, auch in gutem Sinne konservativ. Eine gewisse Scheinkirchlichkeit<br />

der englischen öffentlichen Meinung oder Sitte oder des englischen<br />

Sprachgebrauchs, die man nicht — ich will noch darauf zurückkommen<br />

— selbstgerecht und überheblich die englische Heuchelei nennen<br />

sollte, hat den beiden Dichtern, die den Anfang und das Ende des Jahrhunderts<br />

auszeichneten, das Leben verbittert; dieselbe Scheinkirchlichkeit<br />

hat die meisten neueren englischen Denker und Forscher zu Kompromissen<br />

veranlaßt, die uns nicht gefallen; ich werde den Weg und das<br />

Zögern der englischen Wissenschaft ganz kurz darstellen und die beiden<br />

Dichter den Rahmen des Bildes abgeben lassen.<br />

Lord Byron Lord Byron (geb. 1788, gest. 1824), von Abstammung ein halber<br />

Schotte und ein bißchen Franzose, übrigens aus sehr vornehmem Hause,<br />

war leibhaftig, so wie Milton als Politiker, tolerant, freiheitsliebend,<br />

fast unchristlich, nur als Dichter ein Christ, den Satan gemalt hatte. Ein<br />

genialer gefallener Engel, der als ein Engel doch wohl an das Dasein<br />

dessen glauben mußte, den er bekämpfte.<br />

Ohne sich jemals selbst zu den Gottlosen zu rechnen, wirkte er durch<br />

viele seiner Dichtungen als Atheist, besonders durch die Mysterien „Kaïn"<br />

und „Himmel und Erde", dann durch viele Ausgelassenheiten seiner Epen.<br />

Stärker und tiefer durch sein gewaltiges Grübeln, als etwa bald darauf<br />

(beide von ihm vielfach abhängig) Heine durch seinen Witz, Lenau durch<br />

seine Kirchenfeindlichkeit. Von Byrons hohem Freunde Shelley später.<br />

Man hat mit Recht die Religiosität Byrons mit der von Rousseau<br />

verglichen (Otto Schmidt: Rousseau und Byron, 1888); beide waren zu<br />

sehr Dichter, um sich von dem grauen Materialismus oder von dem farblosen<br />

Deismus befriedigt zu fühlen; beide waren zu frei, um irgendeiner<br />

Sekte angehören zu können, und wäre es die fortgeschrittenste gewesen.<br />

Sie waren in der Logik beide wie Kinder, aber tapfer waren sie und folgten<br />

nur ihrem eigenen Kopfe. Sie nannten das: keiner Autorität vertrauen.<br />

Rousseau drückte das so aus: „Ne donnons rien au droit de 1a naissance<br />

et à l'autorité des pères et des pasteurs; mais rappelons à l'examen de<br />

la conscience et de la raison tout ce qu'il nous ont appris dès notre<br />

enfance." Und Byron sagt das gleiche eigentlich noch schärfer, an einer<br />

Lord Byron 141<br />

Stelle seiner Memoiren, wo ihm der Dichter nicht ins Wort fällt: „It is<br />

useless to tell me not to reason, but to believe. You might as well tell<br />

a man not to wake but to sleep." Auch als Dichter spricht er dann und<br />

wann das Äußerste gegen den christlichen Glauben. Manfred ruft: was<br />

immer ich getan habe, es bleibt zwischen dem Himmel und mir; ich will<br />

keinen Sterblichen zum Mittler. Nicht einmal als Erziehungsmittel, wie<br />

doch mancher aristokratische Anarchist, will Byron die Kirche anerkennen.<br />

„Die Drohung mit den furchtbarsten Höllenstrafen macht so viele Teufel,<br />

wie die gesetzlichen Strafandrohungen der unmenschlichen Menschheit Verbrecher<br />

machen." Doch nicht der Kirche allein und ihren Dogmen sagt er ab;<br />

auch den damals einhundertfünfzig Jahre alten Lehren der Naturreligion.<br />

Er fühlt keine persönliche Verantwortung für seine angeborenen Anlagen<br />

und hat seit seiner frühesten Jugend nicht wieder beten können. In Briefen<br />

und Gedichten nennt er sich höflich einen Christen und findet natürlich<br />

für die Person Jesu Christi weltlich-fromme Worte. Wollte man Zufallsäußerungen<br />

buchstäblich nehmen, so hätte er sogar (wie auch Rousseau)<br />

für den Katholizismus etwas übrig gehabt, als Poet, weil die römische<br />

Kirche den handgreiflichsten Glauben und Gottesdienst besaß. Ausdrücklich<br />

versichert er, er sei kein Atheist; hört man aber genauer hin, so will er<br />

nur versichern, daß er sich überhaupt keinem — ismus, keiner Sekte anschließe.<br />

„I am no Manichean (die an ein gutes und ein böses Prinzip<br />

glaubten) or Any-chean." Das Lösungswort ist für Byron, wohl ebenso<br />

wie für Goethe, daß er den Materialismus des 18. Jahrhunderts überwunden<br />

hatte: „I own my partiality for spirit." Byron war übrigens<br />

(wie Rousseau und wie Goethe) ein guter Kenner der Bibel; das hat aber<br />

natürlich mit seinem Verhältnis zum lieben Gott nicht das mindeste zu<br />

schaffen. Er hat Stoffe aus der jüdischen Bibel behandelt, sogar seine<br />

schönen „Hebrew Melodies" gedichtet, neben den „Irish Melodies". So<br />

entrichtete auch er dem englischen Cant seinen Tribut.<br />

Die freien Sekten in England wiederholen, wo sie für die Arbeiter<br />

eintreten, immer wieder den einprägsamen Satz: England sei das Paradies<br />

der Reichen, das Fegefeuer der Armen. In Reden und in Traktätlein wird<br />

aber längst nicht mehr das haßerfüllte Alte Testament zitiert, sondern die<br />

Heilsbotschaft des Neuen Testaments. Und neben Jesus Christus kommt<br />

wohl auch Lord Byron zu Worte, mit seinem sektenfeindlichen Spruche:<br />

„Ob Dideldum, ob Dideldei<br />

Das ist und bleibt sich einerlei."<br />

Auf Humes Skeptizismus, der nicht nur älter, sondern auch grundsätzlicher<br />

war als Kants Vernunftkritik, folgte in England zunächst der

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