Band 4 - m-presse
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378 Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />
erst seit der äußerlichen Revolution von 1918. Dort hatte man wieder einmal<br />
versucht, die Religion zu retten, nach der ewigen Neigung der Ketzer<br />
ein Urchristentum wiederherzustellen, hier meldete sich sofort ein Bestreben,<br />
die Kirche zu retten. Die Kirche, welche seit den Tagen des Kaisers<br />
Constantinus realpolitisch sich der Macht der Mehrheit unterworfen hatte<br />
und z.B. schon durch Stöcker das Wagnis unternahm, das Schlagwort<br />
Sozialismus in den Dienst der Hierarchie zu stellen. Solcher Heuchelei<br />
gegenüber hat es Günther Dehn (September 1921) für nützlich gehalten,<br />
für die kleine Partei den Namen "christlich sozialdemokratisch" vorzuschlagen,<br />
um sie deutlich von der der wiederauflebenden "Christlichsozialen" zu<br />
trennen, die wahrlich weder christlich noch sozial sind. Nur auf dem<br />
Wege der Schweizer wäre das Mißtrauen, das bei den Proletariern<br />
überall gegen das Christentum und gegen jeden religiösen Einfluß besteht,<br />
zu überwinden, wäre der Protestantismus (Rom ist unbelehrbar)<br />
durch eine zweite, wahre Reformation in eine Volkskirche umzugestalten.*)<br />
*) Über die religiös-soziale Bewegung in der Schweiz kann ich meinen Lesern eine<br />
vorzügliche Übersicht bieten, für deren Abfassung wir dem Herrn Pfarrer Jakob Weidenmann<br />
(Keßwil) besonderen Dank schulden:<br />
"Die Kämpfe zwischen der alten Orthodoxie und der liberalen Theologie waren Ende<br />
des 19. Jahrhunderts verebbt. Die beiden Richtungen hatten angefangen, sich nebeneinander<br />
zu vertragen, als sich eine Bewegung erhob, die von Anhängern der beiden alten Parteien<br />
getragen wurde, und die sich in der Hauptsache gegen den religiösen Individualismus richtete,<br />
ob er im liberalen Gewande der Persönlichkeitskultur oder im pietistischen des Einzelseelenheils<br />
sich zeigte. Hier handelte es sich nicht mehr um dogmatische Kämpfe, um die richtige<br />
Lehre, sondern darum, daß man die urchristliche Reichgotteshoffnung wieder ernst zu nehmen<br />
versuchte. In der Negation reichten sich die dogmatisch verschieden eingestellten Anhänger<br />
der Bewegung die Hand: Die Kirche hat ihre soziale Aufgabe vernachlässigt; sie hat es nicht<br />
gewagt, zur rechten Zeit und am rechten Ort zu protestieren gegen die Vergewaltigung des<br />
Menschen durch die Sache im modernen Industrialismus.<br />
Die Vorläufer der religiös-sozialen Bewegung in der Schweiz waren einige Pfarrer,<br />
die offen zur Sozialdemokratie übertraten, und auf ihre linksliberale Theologie einen sozialistischen<br />
Aufbau stellten. Theologischer Ausgangspunkt war Alois Emanuel Biedermann,<br />
der Zürcher Theologe mit seiner "konkret-monistischen" Metaphysik; wirtschaftlich und politisch<br />
standen sie in der Hauptsache auf dem Boden des reinen Marxismus. Sie waren Mitglieder<br />
und Führer in der Sozialdemokratischen Partei. Diesen Männern wurden nicht allzu<br />
große Schwierigkeiten bereitet, weder um ihrer Theologie willen, die, neben ausgeprägt<br />
monistischen Grundlagen, gelegentlich stark von Kalthoff und dem Bremer Kreis beeinflußt<br />
war, noch um ihres Sozialismus willen; standen doch vor der Jahrhundertwende höchst angesehene<br />
bürgerliche Demokraten der Sozialdemokratie sehr nahe. Diese sozialdemokratischen<br />
Liberalen wurden in der Regel bei den periodischen Wiederwahlen durch das Volk immer<br />
wieder in ihrem Amt bestätigt, allerdings in den meisten Fällen von einer sozialistischen<br />
Wählerschaft. Es gibt in Zürich, Bern, Winterthur und Basel Vereine sozialistischer Kirchgenossen;<br />
die sozialistischen Massen hingegen gehen an der Kirche vorbei, wennschon keine<br />
ausgesprochene Kirchenfeindlichkeit vorhanden ist. Die Autonomie der einzelnen Kirchgemeinden<br />
ist sehr groß; Bekenntniszwang gibt es nicht, und ebensowenig den rechten Glauben<br />
polizeilich überwachende Konsistorien. Es ist also völlig Sache der einzelnen Gemeinde, ob<br />
sie einen Pfarrer duldet, der auf Haeckel oder Marx schwört. Darum kommt es, allerdings als<br />
Die Religiös-Sozialen 379<br />
Das Menschenrecht auf einiges Erdenglück zwar auf Herrenworte des<br />
menschlichen Lehrers Jesus zu stützen, aber im Grunde doch durch Berufung<br />
auf diesseitige Wissenschaften zu beweisen. In Deutschland ist man nur<br />
selten so frei, auch wenn man konsequent genug war, aus der Landeskirche<br />
auszutreten. Prächtige Ausnahmen sind zwar die Rufer im Streite Karl<br />
Mennicke und Günther Dehn, sie bauen theoretisch oder praktisch an einer<br />
religiösen und sozialistischen Lebensgestaltung, doch die Dogmen von Gott<br />
und einer göttlichen Vorsehung, von einer göttlichen Leitung der Weltgeschichte<br />
(die doch nach Marx nur materialistischen, richtiger: ökonomischen<br />
Gesetzen gehorchen sollte) werden nicht preisgegeben. Nicht eigentlich die<br />
Religion Christi wird gelehrt, sondern bestenfalls ein Leben in Christo:<br />
der alte Paulinismus. Wie damals die Judenchristen das Festhalten<br />
an der verjährten Beschneidung verlangten, so wünschen jetzt die Halben<br />
das Festhalten der Proletarier an eingewurzelten kleinbürgerlichen Gewohnheiten.<br />
Ausnahme, vor, daß Pfarrer im Einverständnis mit der Gemeinde das Abendmahl nicht<br />
mehr austeilen oder von Gott als von der Weltkausalität reden.<br />
Diese Pfarrer, die den theologischen Liberalismus mit Theorie und Praxis der Sozialdemokratie<br />
zu verbinden wagten, inaugurierten noch keine Bewegung, und stehen auch heute<br />
den "Religiös-Sozialen" äußerst kritisch gegenüber. (Wie sie sich innerlich zu ihrem Pfarramt<br />
stellten, das hat unsereiner nicht zu verantworten und zu beurteilen. F. M.) Die Verbindung<br />
von Theologie und Politik war eine sehr lockere und beruhte mehr auf Ideen der<br />
Humanität als auf einem Wiederaufwachen urchristlich- oder täuferisch-kommunistischen<br />
Enthusiasmus. Ihre Ablehnung der Vaterlandsverteidigung z. B. wurzelte nicht in der<br />
Ethik der Bergpredigt, sondern in ihrem Kosmopolitismus. Das Evangelium in die<br />
Probleme des politischen und wirtschaftlichen Lebens hineinzutragen, blieb in der<br />
Hauptsache den eigentlichen Religiös-Sozialen vorbehalten. Höchstens, daß die soziale<br />
Seite des Evangeliums stark betont und Jesus gelegentlich als erster Sozialdemokrat<br />
hingestellt wurde. Dem Reiche dieser Welt wurde nicht das Reich Gottes entgegengestellt,<br />
die Spannung zwischen Religionskultus und Reichgotteshoffnung nicht empfunden.<br />
Religion war ihnen im wesentlichen Theologie, und zwar liberale. Ein ausgeprägter<br />
Intellektualismus hinderte eine religiöse Befruchtung sozialistisch-kommunistischer<br />
Ideen. Ihre Opposition gegen die Kirche war kein Aufstand religiöser Ketzer wider kirchlich<br />
übermalte Gottlosigkeit. Die Opposition galt nur dem mangelnden sozialen Empfinden<br />
innerhalb der Kirche.<br />
Völlig anders geartet ist der Ansturm der eigentlichen religiös-sozialen Bewegung gegen<br />
die Kirche. Überaus befruchtend haben hier die Bücher Kutters gewirkt. Kutter kam vom<br />
Pietismus her und war entscheidend beeinflußt von den beiden Blumhardt im württembergischen<br />
Bad Boll, dem älteren, der Kranke mit Gebet heilte, und dem jüngeren, der Mitglied<br />
der Sozialdemokratie wurde. Die Blumhardts vertraten auf dem Boden eines kräftigen<br />
biblischen Realismus einen religiösen Dynamismus. Zu diesem biblischen Realismus gehörte<br />
vor allem das Ernstnehmen der neutestamentlichen Reichgotteshoffnung. Diese wurde in den<br />
Mittelpunkt der Predigt gestellt. Ein pietistischer Supranaturalismus verband sich hier mit<br />
ganz modernen dynamistischen Ideen: Gott bricht in diese Welt herein in den göttlichen<br />
Kräften, die in Menschen und ganzen Völkern offenbar werden. Nicht die Kirche hat das<br />
Privilegium, Trägerin solcher Gottes-, noch besser gesagt Reichgotteskräfte zu sein; sie brechen<br />
hervor, wo es ihnen beliebt, und meist gar nicht dort, wo das Wort "Gott" am meisten