Band 4 - m-presse
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Viertes Buch. Siebenter Abschnitt<br />
trachtungen, die der völligen Unkirchlichkeit oder Kirchenfeindschaft der<br />
besten Dichter und Künstler unserer Gegenwart gelten, der Wertung von<br />
Kellers Hauptwerken ruhig vorausschicken.<br />
An der völligen Gottlosigkeit unseres heutigen Schrifttums, also der<br />
gesamten lesenden Bevölkerung, ist nämlich nicht zu zweifeln; die konfessionelle<br />
Hintertreppenliteratur, so massenhaft sie von geistlichen Vereinen<br />
empfohlen und verkauft wird, kommt für die sehr breit gewordene Oberschicht<br />
des Mittelstandes und auch der Arbeiter kaum mehr in Betracht; die<br />
Verfasser all dieser Traktätlein schämen sich bereits vor der Öffentlichkeit.<br />
Man hat zwei Zeichen der allgemeinen Gottlosigkeit betrachtet;<br />
die Unmenge der Romane und der halbgebildeten Denkübungen, die eine<br />
Befreiung von jedem Glauben predigen, die einem solchen Eifer ihren<br />
Erfolg verdanken, die aber dennoch just durch ihren Eifer noch einen letzten<br />
Rest theologischen Interesses darstellen; ein noch stärkeres Zeichen schien<br />
die scheinbar nur negative Tatsache, daß in dem größten Teile unseres<br />
gelehrten und poetischen Schrifttums jede Beziehung zu religiösen Fragen<br />
völlig fehlt; noch vor hundert Jahren hatte Dichtung und Naturwissenschaft,<br />
Geschichte und Moral die alte Gewohnheit nicht aufgegeben, an<br />
irgendwelche religiöse Begriffe anzuknüpfen. Nun möchte ich aber auf das<br />
Altern der stärkste Zeichen einer gottlosen Übereinstimmung zwischen Schriftstellern<br />
und Lesern hinweisen, auf das Vorhandensein von zahlreichen Büchern,<br />
die in einer ganz neuen Art von lustiger Gottlosigkeit ganz richtig verstanden<br />
werden, obgleich die Verfasser weder Spott noch Ironie, noch Kritik, noch<br />
eigentlich Witz zur Erzeugung von Lustigkeit verwandt haben. Gottfried<br />
Keller erzählt ganz ernsthaft eine Heiligenlegende, und wir lächeln, Ludwig<br />
Thoma schildert (wieder ein Menschenalter später) die Geburt des Heilands<br />
mit der naiven Gläubigkeit eines alten Krippenspiels, und wir lachen.<br />
Fast ohne künstliche oder künstlerische Mittel wird der Humor dadurch erzeugt,<br />
daß ein Stoff, an dessen Wahrheit niemand glaubt, im Tone des<br />
Glaubens vorgetragen wird. Die Dichter setzen den Unglauben des Publikums<br />
also bereits voraus; man lasse vor einem solchen Publikum gewisse<br />
fromme Stücke von Lope oder von Calderon aufführen (ohne zu verraten,<br />
daß der Verfasser altberühmt sei und historisch gewürdigt werden müsse),<br />
man sorge für eine naiv glaubensinnige Darstellung, übersetze ein bißchen<br />
frei, und ein dankbares Gelächter wird die Antwort sein.<br />
Die altertümliche Form ist nämlich das einzige künstlerische Mittel,<br />
das denn doch in solchen Schöpfungen nicht verschmäht werden darf. Dadurch<br />
unterscheiden sich solche Schriften von den Karikaturen des Heiligen,<br />
wie sie etwa in Frankreich beliebt waren, von Voltaires "Pucelle" und<br />
Parnys "Guerre des Dieu" bis auf die Texte Offenbachs; nur Anatole<br />
Altern der Symbole 267<br />
France, sonst durchaus ein Schüler Voltaires, scheint etwas von der neuen<br />
deutschen Spaßart gelernt zu haben. Dort trug der Autor seinen Unglauben<br />
und seine Bosheiten selbst vor; bei uns blieb er sachlich, er machte<br />
den Unglauben des Publikums zu seinem boshaften Mitarbeiter. Sein<br />
Mittel war — wie gesagt — der altmodische Vortrag, die einfältige oder<br />
mundartliche Sprache, wodurch freilich sofort der Gegenstand der Andacht<br />
zu der Sache eines veralteten, einfältigen, bäurischen, "idiotischen"<br />
Glaubens gestempelt wurde.<br />
Als Sprachform, in welcher der einfache Bericht ohne weiteren Zusatz<br />
zur Parodie wurde, empfahl sich lange vor unserer Zeit für Deutschland<br />
von selbst die volkstümliche, lebenstrotzende, wissenschaftlich unbrauchbare<br />
und schon darum leise veraltete Bibelsprache der Reformationszeit,<br />
für Dichtungen insbesondere der Knittelvers von Hans Sachs. Hans Sachs,<br />
zeitweilig vergessen oder weit über Gebühr verachtet, dann wieder ein<br />
wenig über Gebühr gepriesen, war in Wahrheit mehr als ein gewöhnlicher<br />
Meistersinger gewesen und hatte, überfruchtbar in äußerst nachlässiger<br />
Sprache, dem Geiste seiner Zeit trefflich gedient; in der Gefolgschaft Luthers<br />
einer der liebenswertesten Männer: gläubig und treu, kein ritterlicher Vorkämpfer<br />
wie Hutten, aber einer der besten Genossen. In seinem ahnungslosen<br />
Realismus behandelte er die Menschen aus allen Erdteilen und allen<br />
Zeiten mit dem gleichen Anachronismus; wir langweilen uns mitunter,<br />
aber wir lachen nicht einmal über die Verstöße gegen das Kostüm von Zeit<br />
und Ort. Diese Schnitzer sind wie bei dem ungleich größeren Dürer oft<br />
so reizvoll, daß sie sogar etwas Langeweile vertreiben können.<br />
Der Knittelvers von Hans Sachs war schon von Gottsched wieder Knittelvers<br />
entdeckt worden, wenn auch nur als Darstellungsmittel für die niedrigste<br />
Gelegenheitspoesie. Goethe war es vorbehalten, ohne jede Theorie im<br />
Knittelvers den deutschen Vers zu entdecken und ihn nicht nur für allerlei<br />
Possen, sondern auch für Meisterschöpfungen seiner Jugendzeit anzuwenden :<br />
für die unvergleichlichen Fragmente des Ewigen Juden und des Faust.<br />
Wie Goethe den Hundetrab des alten Knittelverses rhythmisch gehoben,<br />
wie er dem volkstümlichen deutschen Verse Schönheit und Wohllaut und<br />
Adel verliehen hat, das gehört nicht hierher. Wohl aber, wie Goethe gerade<br />
durch die unverkünstelte Form dazu gelangte, das Ungestaltbare gestalten<br />
zu können. Wilhelm Scherer nennt das (Geschichte der deutschen Literatur,<br />
S. 489) „Vermenschlichung des Heiligen"; da nimmt Scherer eine Wirkung<br />
vorweg, die von Goethe weder gewollt, noch erreicht wurde; menschlich<br />
genug war ja das "Heilige" seiner Herkunft nach, anthropomorphisch<br />
war der Gott wie der Teufel. Was Goethe mit der unerhörten Sprachkraft<br />
des erneuerten Knittelverses wollte und erreichte, war das Aussprechen