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Band 4 - m-presse

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266<br />

Viertes Buch. Siebenter Abschnitt<br />

trachtungen, die der völligen Unkirchlichkeit oder Kirchenfeindschaft der<br />

besten Dichter und Künstler unserer Gegenwart gelten, der Wertung von<br />

Kellers Hauptwerken ruhig vorausschicken.<br />

An der völligen Gottlosigkeit unseres heutigen Schrifttums, also der<br />

gesamten lesenden Bevölkerung, ist nämlich nicht zu zweifeln; die konfessionelle<br />

Hintertreppenliteratur, so massenhaft sie von geistlichen Vereinen<br />

empfohlen und verkauft wird, kommt für die sehr breit gewordene Oberschicht<br />

des Mittelstandes und auch der Arbeiter kaum mehr in Betracht; die<br />

Verfasser all dieser Traktätlein schämen sich bereits vor der Öffentlichkeit.<br />

Man hat zwei Zeichen der allgemeinen Gottlosigkeit betrachtet;<br />

die Unmenge der Romane und der halbgebildeten Denkübungen, die eine<br />

Befreiung von jedem Glauben predigen, die einem solchen Eifer ihren<br />

Erfolg verdanken, die aber dennoch just durch ihren Eifer noch einen letzten<br />

Rest theologischen Interesses darstellen; ein noch stärkeres Zeichen schien<br />

die scheinbar nur negative Tatsache, daß in dem größten Teile unseres<br />

gelehrten und poetischen Schrifttums jede Beziehung zu religiösen Fragen<br />

völlig fehlt; noch vor hundert Jahren hatte Dichtung und Naturwissenschaft,<br />

Geschichte und Moral die alte Gewohnheit nicht aufgegeben, an<br />

irgendwelche religiöse Begriffe anzuknüpfen. Nun möchte ich aber auf das<br />

Altern der stärkste Zeichen einer gottlosen Übereinstimmung zwischen Schriftstellern<br />

und Lesern hinweisen, auf das Vorhandensein von zahlreichen Büchern,<br />

die in einer ganz neuen Art von lustiger Gottlosigkeit ganz richtig verstanden<br />

werden, obgleich die Verfasser weder Spott noch Ironie, noch Kritik, noch<br />

eigentlich Witz zur Erzeugung von Lustigkeit verwandt haben. Gottfried<br />

Keller erzählt ganz ernsthaft eine Heiligenlegende, und wir lächeln, Ludwig<br />

Thoma schildert (wieder ein Menschenalter später) die Geburt des Heilands<br />

mit der naiven Gläubigkeit eines alten Krippenspiels, und wir lachen.<br />

Fast ohne künstliche oder künstlerische Mittel wird der Humor dadurch erzeugt,<br />

daß ein Stoff, an dessen Wahrheit niemand glaubt, im Tone des<br />

Glaubens vorgetragen wird. Die Dichter setzen den Unglauben des Publikums<br />

also bereits voraus; man lasse vor einem solchen Publikum gewisse<br />

fromme Stücke von Lope oder von Calderon aufführen (ohne zu verraten,<br />

daß der Verfasser altberühmt sei und historisch gewürdigt werden müsse),<br />

man sorge für eine naiv glaubensinnige Darstellung, übersetze ein bißchen<br />

frei, und ein dankbares Gelächter wird die Antwort sein.<br />

Die altertümliche Form ist nämlich das einzige künstlerische Mittel,<br />

das denn doch in solchen Schöpfungen nicht verschmäht werden darf. Dadurch<br />

unterscheiden sich solche Schriften von den Karikaturen des Heiligen,<br />

wie sie etwa in Frankreich beliebt waren, von Voltaires "Pucelle" und<br />

Parnys "Guerre des Dieu" bis auf die Texte Offenbachs; nur Anatole<br />

Altern der Symbole 267<br />

France, sonst durchaus ein Schüler Voltaires, scheint etwas von der neuen<br />

deutschen Spaßart gelernt zu haben. Dort trug der Autor seinen Unglauben<br />

und seine Bosheiten selbst vor; bei uns blieb er sachlich, er machte<br />

den Unglauben des Publikums zu seinem boshaften Mitarbeiter. Sein<br />

Mittel war — wie gesagt — der altmodische Vortrag, die einfältige oder<br />

mundartliche Sprache, wodurch freilich sofort der Gegenstand der Andacht<br />

zu der Sache eines veralteten, einfältigen, bäurischen, "idiotischen"<br />

Glaubens gestempelt wurde.<br />

Als Sprachform, in welcher der einfache Bericht ohne weiteren Zusatz<br />

zur Parodie wurde, empfahl sich lange vor unserer Zeit für Deutschland<br />

von selbst die volkstümliche, lebenstrotzende, wissenschaftlich unbrauchbare<br />

und schon darum leise veraltete Bibelsprache der Reformationszeit,<br />

für Dichtungen insbesondere der Knittelvers von Hans Sachs. Hans Sachs,<br />

zeitweilig vergessen oder weit über Gebühr verachtet, dann wieder ein<br />

wenig über Gebühr gepriesen, war in Wahrheit mehr als ein gewöhnlicher<br />

Meistersinger gewesen und hatte, überfruchtbar in äußerst nachlässiger<br />

Sprache, dem Geiste seiner Zeit trefflich gedient; in der Gefolgschaft Luthers<br />

einer der liebenswertesten Männer: gläubig und treu, kein ritterlicher Vorkämpfer<br />

wie Hutten, aber einer der besten Genossen. In seinem ahnungslosen<br />

Realismus behandelte er die Menschen aus allen Erdteilen und allen<br />

Zeiten mit dem gleichen Anachronismus; wir langweilen uns mitunter,<br />

aber wir lachen nicht einmal über die Verstöße gegen das Kostüm von Zeit<br />

und Ort. Diese Schnitzer sind wie bei dem ungleich größeren Dürer oft<br />

so reizvoll, daß sie sogar etwas Langeweile vertreiben können.<br />

Der Knittelvers von Hans Sachs war schon von Gottsched wieder­ Knittelvers<br />

entdeckt worden, wenn auch nur als Darstellungsmittel für die niedrigste<br />

Gelegenheitspoesie. Goethe war es vorbehalten, ohne jede Theorie im<br />

Knittelvers den deutschen Vers zu entdecken und ihn nicht nur für allerlei<br />

Possen, sondern auch für Meisterschöpfungen seiner Jugendzeit anzuwenden :<br />

für die unvergleichlichen Fragmente des Ewigen Juden und des Faust.<br />

Wie Goethe den Hundetrab des alten Knittelverses rhythmisch gehoben,<br />

wie er dem volkstümlichen deutschen Verse Schönheit und Wohllaut und<br />

Adel verliehen hat, das gehört nicht hierher. Wohl aber, wie Goethe gerade<br />

durch die unverkünstelte Form dazu gelangte, das Ungestaltbare gestalten<br />

zu können. Wilhelm Scherer nennt das (Geschichte der deutschen Literatur,<br />

S. 489) „Vermenschlichung des Heiligen"; da nimmt Scherer eine Wirkung<br />

vorweg, die von Goethe weder gewollt, noch erreicht wurde; menschlich<br />

genug war ja das "Heilige" seiner Herkunft nach, anthropomorphisch<br />

war der Gott wie der Teufel. Was Goethe mit der unerhörten Sprachkraft<br />

des erneuerten Knittelverses wollte und erreichte, war das Aussprechen

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