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Band 4 - m-presse

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224 Viertes Buch. Sechster Abschnitt<br />

Rudolf Wagner, Hofrat, erschienen, unter dem sprichwörtlich gewordenen<br />

Titel "Köhlerglaube und Wissenschaft". Ich nenne das Buch ein Pamphlet<br />

(wie Fichtes Meisterangriff gegen Nicolai), weil es die Lacher auf seine<br />

Seite zwingt, überall, auch wo es in Kleinigkeiten ungerecht sein mag; in<br />

der Hauptsache aber ist es wieder einmal ein Pamphlet großen Stils, verteidigt<br />

das Recht der Forschung gegen die Dummheit und ist heute noch<br />

sehr ergötzlich zu lesen. Nicht ebenso die Einleitung zur zweiten Auflage,<br />

die zu einem Gelehrtenzanke ausgewachsen ist. Über den bloßen Spaß<br />

hinaus gedeiht erst der zweite Teil der Schrift, der zwei Punkte des Glaubensbekenntnisses<br />

von Rudolf Wagner kritisiert: die Abstammung der<br />

Menschheit von Adam und Eva und das Dasein einer unsterblichen Seelensubstanz.<br />

An die biblische Schöpfungsgeschichte glaubte zwar 1854 längst<br />

kein Naturwissenschaftler und kein gebildeter Theologe mehr; dennoch war<br />

es verdienstlich, daß Vogt die "durchaus unhaltbaren Märchen" von Adam<br />

und von Noah in einer ebenso übermütigen wie scharfsinnigen Übersicht<br />

über die ganze veraltete Frage ablehnte. Nicht so veraltet war scheinbar<br />

der Streit um die Natur der Seele und um ihre Unsterblichkeit; wir haben<br />

ja gesehen (vgl. Bd. I, S. 38, und später oft), wie untrennbar Leugnung<br />

der Unsterblichkeit mit Gottesleugnung verbunden war, vom Altertum<br />

bis zur Gegenwart.<br />

Auf den Gottesbegriff selbst läßt sich Vogt nur vorsichtig ein, doch nicht<br />

unehrlich. Die wahre Meinung ist durch den Hohn hindurch, den Vogt über<br />

den frommen Physiologen ausgießt, nicht zu verkennen. Wagner hatte den<br />

Glauben ein Geschenk genannt, ein neues Organ des Geistes. Der Materialist<br />

fragt nach dem Urheber des Geschenks, den Wagner in einer Art<br />

von Verschämtheit nicht genannt hat, des Geschenks, durch das sein Gegner<br />

ein Privilegierter unter den Naturforschern geworden ist. Die anderen<br />

Physiologen seien mit dem Linsengericht des Verstandes abgespeist worden;<br />

"wir, die wir nur mit den aller Welt gemeinsam zukommenden gewöhnlichen<br />

Organen ausgerüstet sind, wir vermögen nichts anderes zu tun, als<br />

uns zu beklagen, daß uns eben jenes Geschenk nicht gegeben wurde, und daß<br />

es uns unmöglich ist, die göttlichen Dinge zu erkennen."<br />

Nicht mit so schlagfertigem Witze ausgestattet wie Vogt, doch tiefer<br />

an Kant gebildet und leider auch an Schellings Naturphilosophie und an<br />

Feuerbachs Hegelei, war Jakob Moleschott (geb. 1822, gest. 1893); ein<br />

sinnender Naturforscher, der aus Deutschland fortgejagt wurde, weil er<br />

um 1850 die Vermessenheit gehabt hatte, die Physiologie des Menschen<br />

physisch betrachten zu wollen; er fand eine Zuflucht und Wirkungsmöglichkeit<br />

in Zürich, später in Italien, wo er noch heute als Vertreter der freien<br />

deutschen Philosophie in hohen Ehren steht. Seine Weltansicht würde<br />

Moleschott 225<br />

richtiger, wenn sie schon einen Namen erhalten muß, Relativismus heißen,<br />

als Materialismus; denn Moleschott war tiefer durchdrungen als seine<br />

Genossen, besonders tiefer als Büchner, von der Überzeugung: alle Dinge<br />

da draußen sind uns nicht bekannt an sich, sondern nur in ihren Beziehungen<br />

zueinander, eigentlich nur in ihren Beziehungen zu den menschlichen Sinnen.<br />

Büchner hat sich unzähligemal auf Moleschott berufen, aber nicht einmal<br />

diesen nachdenklichen Naturforscher immer richtig verstanden, woran denn<br />

Moleschotts "Naturphilosophie" mitunter die Schuld getragen haben mag.<br />

Was beide zu einigen schien, das war das gemeinsame sensualistische Bekenntnis<br />

zu Locke: es gibt keine angeborenen Ideen; es ist in unserem Verstande<br />

nichts, was nicht eingezogen wäre durch dasTor der Sinne. Nur<br />

daß Büchner sich ganz behaglich fühlte bei seinen platten Gedanken zu<br />

ebener Erde, während Moleschott wenigstens in seiner Sehnsucht ein höheres<br />

Stockwerk aufbaute oder aufbauen sehen wollte.<br />

Nur wenig später als Vogt und Moleschott trat dieser Ludwig Büchner Büchner<br />

(geb. 1824, gest. 1899) auf den Plan, auch er ein Naturwissenschaftler, doch<br />

kein Forscher, auch er von der Reaktion gemaßregelt und doch im Grunde<br />

ein trivialer Schriftsteller; woraus denn seine ungeheure Popularität zu<br />

erklären war. Von Moleschott hat er (aber das Schiefe daran hat er selbst<br />

zu verantworten) die Überschrift seines bekanntesten Werkes entlehnt:<br />

„Kraft und Stoff", von den Franzosen die Sprachgewohnheit, eine allgemeine<br />

Naturlehre Philosophie zu nennen. Er war so unkritisch (was ihm<br />

schon Lange vorgeworfen hat), daß er eine Hypothese, die der modernen<br />

Atomistik nämlich, für eine "Entdeckung" der Naturforschung hielt; er war<br />

so unkritisch, daß er es in seinem blinden Eifer gar nicht bemerkte, wie die<br />

von ihm fast journalistisch angepriesene Lehre von einer Erhaltung der<br />

Kraft oder der Energie alle seine Redereien über den "Stoff" sinnlos<br />

machte. Die strengeren, physiologischen Materialisten, Vogt und Moleschott,<br />

hatten sich mit dem Gottesbegriffe, also mit der religiösen Frage, nur<br />

gelegentlich in ihren Streitschriften eingelassen; ihre Hauptabsicht war, das<br />

Wesen der Seele womöglich mechanistisch zu erklären, da sich die Tätigkeit<br />

der Seele nun einmal sinnfällig nicht beschreiben ließ. Als nun durch Darwin<br />

der alten Schöpfungslegende die Entwicklungshypothese entgegengestellt<br />

worden war und so das Wunder der Weltschöpfung durch Gott zur Debatte<br />

kam, beeilte sich Büchner, der in seiner fünfzigjährigen Schriftstellerei<br />

immerzu Anschluß an die Jüngsten suchte, auch etwas Religionsphilosophie<br />

zu leisten und gab (1874) eine Schrift über den "Gottesbegriff" heraus.<br />

Er hätte für diese, wie für noch jüngere Schriften, weit eher als<br />

D. F. Strauß verdient, als das Urbild des Bildungsphilisters an den<br />

Pranger gestellt zu werden. Da ist keine Rede mehr von dem oft ehrlichen

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