Band 4 - m-presse
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132 Viertes Buch. Dritter Abschnitt<br />
Aber France hat seinen ganz freien Skeptizismus*) aus erster Hand,<br />
nicht erst von dem in letzten Fragen immer unzuverlässigen Voltaire;<br />
wie der Revolution gegenüber, so ist France auch vorurteilslos gegenüber<br />
den neuesten geistigen Moden. Die haltlose Stellung der englisch-amerikanischen<br />
Pragmatisten und ihres Verwässerers Bergson finde ich nirgends<br />
besser gestaltet als in seinem (wenigstens im ersten Teile) prachtvollen<br />
Romane "Révolte des Anges"; man muß sich nur die Mühe geben,<br />
den kritischen Gehalt von der lustigen Fabel zu scheiden, der der Verfasser<br />
seinen starken Erfolg zumeist verdanken mag. Sein Lachen ist mitunter<br />
noch feiner oder doch moderner als das Voltaires; er schreibt so<br />
frei, als ob das Christentum zu existieren aufgehört hätte. In der "Révolte"<br />
nun empört er sich gegen den öffentlichen Geist im jetzigen Frankreich,<br />
der ohne Glauben der ererbten Religion wieder zu neuer Macht verhelfen<br />
möchte. Mit äußerster Ironie nennt er die Académie fran\, caise "bien<br />
pensante". Der alte Judengott habe gegenwärtig die zur Stütze, die<br />
nicht an ihn glauben: die Philosophen. „Und man hat heutzutage eigens<br />
den Pragmatismus erfunden, um die Religion bei den denkenden Geistern<br />
zu beglaubigen." Seit dem Wiedererwachen des Nationalismus sei der<br />
Skeptizismus und das Freidenkertum in Frankreich nicht mehr guter Ton.<br />
Die Wirkung aller dieser Ausfälle gegen die Rückständigkeit der französischen<br />
Modephilosophie wird durch die phantastisch kecke Einkleidung<br />
bedeutend erhöht. Ein Engel, der Schutzgeist eines frivolen und gut<br />
katholischen jungen Parisers, ist der Raisonneur des Romans; dieser Engel<br />
hat in müßigen Stunden eine ganze theologische Bibliothek durchstudiert<br />
und ist so zu der Überzeugung gekommen, der alte Judengott sei unglaubhaft;<br />
man lerne aus den Büchern niemals, wie die Dinge sind, aber mitunter,<br />
wie sie nicht sind. Der Agnostizismus gewinnt im Munde eines<br />
Engels einen neuen Reiz, wenn man nur die logische Unmöglichkeit in<br />
Kauf genommen hat, daß die Engel eines Gottes, der nicht ist, wirklich<br />
existieren. Eine Probe von dem Gedankengang des Schutzengels, der<br />
nach dem alten Beispiele Satans den Thron des alten Judengottes stürzen<br />
will: „Ich habe den Glauben verloren ... Ich glaube an Gott, weil meine<br />
Existenz von der seinen abhängt und weil ich in das Nichts vergehe, wenn<br />
er nicht mehr ist. Wie die Silenen und Mänaden an Dionysos glaubten<br />
und aus den gleichen Gründen. Ich glaube an den Gott der Juden und<br />
der Christen. Aber ich leugne, daß er die Welt geschaffen habe; er hat<br />
höchstens einen kleinen Teil davon organisiert, und woran er gerührt hat,<br />
*) In seiner Nacherzählung des "Dornröschens" führt France einen Skeptiker ein,<br />
der an die Feen nicht glaubt, die er, der Skeptiker, selbst gesehen hat; sehr hübsch wirft er ihm<br />
(mit einem nach "athéisme" gebildeten Scherzworte) ,,un froid aféisme" vor.<br />
Anatole France 133<br />
das trägt das Zeichen seines kurzsichtigen und brutalen Geistes. Ich denke<br />
nicht, daß er ewig und unendlich sei; denn die Vorstellung eines Wesens,<br />
das in Raum und Zeit nicht endlich wäre, ist absurd. Ich halte ihn für<br />
beschränkt und sogar für sehr beschränkt. Ich glaube nicht mehr, daß er<br />
der einzige Gott sei; lange Zeit hindurch glaubte er es selbst nicht; er war<br />
zuerst polytheistisch. Später machten ihn sein Hochmut und die Schmeicheleien<br />
seiner Anbeter monotheistisch. Er ist unlogisch; auch ist er weniger<br />
mächtig, als man meint. Kurz, er ist weniger ein Gott, als ein unwissender<br />
und eitler (vain) Demiurg." (Wir werden noch erfahren, wie bei uns<br />
der konservativ gewordene, aber atheistisch gebliebene Wilhelm Jordan<br />
nach 1848 den Demiurg, also den Teufel, als den Weltbaumeister gegen<br />
den lieben Gott ausspielte.) Man sieht, daß France den rebellischen Engel<br />
aus künstlerischen Gründen nicht so sehr wie einen Atheisten, als wie einen<br />
Naturphilosophen reden läßt. Hier kann aber von einer Abschwächung<br />
der Gottesleugnung aus Vorsicht nicht mehr die Rede sein; der Atheismus<br />
des Verfassers ist so gründlich und so offen, daß das Spielen mit<br />
dem Gottesbegriff ohne Schaden getrieben werden kann.<br />
Noch einmal: die Schärfe der Satire richtet sich zumeist gegen die gedankenlose<br />
Pariser Gesellschaft, bei der zweihundert Jahre nach Bayle der<br />
Kirchenglaube wieder etwa Mode geworden ist; es trifft, wenn eine gut<br />
katholische Pariserin, der — sie liegt im Bette mit ihrem Geliebten — der<br />
Schutzengel dieses Geliebten erscheint, an die Existenz von Engeln durchaus<br />
nicht glauben will. „Ich verstehe nicht. Ich werde verrückt." Die Hiebe<br />
treffen auch anderswohin: auf die höhere Geistlichkeit, die wie die höhere<br />
Engelhierarchie zum alten Regimente hält; auf den mittelalterlichen<br />
Wortrealismus, nach dessen Lehre avant qu'il y eût des pieds et des culs<br />
en ce monde, Le Coup de pied au cul résidait de toute éternité dans le<br />
sein de Dieu; auf Luther, tout gonflé de bière et de théologie, der den<br />
Untergang des Christentums vielleicht um mehr als ein Jahrtausend<br />
hinausgeschoben habe; auf die französische Romantik, die mit unglaublicher<br />
Verstandesschwäche ein malerisches und literarisches Christentum geschaffen<br />
habe. Aber der Hauptangriff gilt selbstverständlich nicht dem<br />
Engelglauben, sondern dem Christentume und seinem Judengotte, der<br />
unter verächtlichen Namen als ein rachsüchtiger Semit verhöhnt wird,<br />
der sich mit einer Lüge die Eigenschaften der Unendlichkeit, der Ewigkeit<br />
und der Allmacht beigelegt hat und, weit entfernt, die Welten geschaffen<br />
zu haben, weder ihre Zahl noch ihre Gesetze kennt.<br />
Der Schluß ist, als ob es ein Unterhaltungsroman wäre, aufgeklebt,<br />
sentimental und optimistisch. Satan selbst, der Oberste der aufrührerischen<br />
Engel, verzichtet auf die Revolution und beschließt, nach Eingebung