Band 4 - m-presse
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162<br />
Viertes Buch. Vierter Abschnitt<br />
Es entspricht recht gut der landläufigen Vorstellung von den Franzosen,<br />
daß dort die äußere große Revolution bis zur zeitweiligen Abschaffung<br />
Gottes führte; es entspricht ebensogut dem Bilde vom deutschen Wesen,<br />
daß hier der Weg der inneren großen Revolution, über Kant und Goethe<br />
hinweg, zu der Weltansicht führte, die ich unter der Bezeichnung "gottlose<br />
Mystik" zusammenzuhalten suche. Es entspricht aber durchaus nicht den<br />
üblichen Schlagworten über England, daß von dorther, woher der Welt<br />
die stärksten Geistesbefreier (durch die Zweifel Humes und den Agnostizismus<br />
Spencers) gekommen sind und zugleich eine höfliche Rücksichtnahme<br />
auf die konservativen Kultformen der Kirche — daß also aus England<br />
auch alle die Leute stammen, die mit den uralten Mitteln des Betrugs<br />
neue Religionen stiften oder gründen möchten. Und doch sind die neuen<br />
kindlichen Schwindeleien des Spiritismus und der Theosophie von Engländern<br />
oder von Neuengländern ausgegangen, haben von England oder<br />
von Amerika aus die Armen am Geiste unterjocht; und auch die ursprünglich<br />
viel ehrlichere, dem alten, ketzerischen Pietismus verwandte Bewegung<br />
Heilsarmee der Heilsarmee (Salvation-Army) ist rein englisches Erzeugnis. Über diese<br />
letzte Bewegung noch ein Wort, weil sie, die in theologisch gerichteten Zeiten<br />
eine Ketzerei gewesen wäre, wie andere Ketzereien auch, in unserer untheologischen<br />
Gegenwart eine Gefahr geworden ist oder ein neues Christentum,<br />
wie man will.<br />
er, des Vaters Lust bei seiner Zeugung wäre unfruchtbar geblieben. Zu der Erinnerung an<br />
Günther nur zwei Bemerkungen. Wir spotten so viel über englische Prüderie; aber auch in<br />
unserem vorurteilslosen Deutschland wurden Günthers krasse Verse über das Sperma seines<br />
Vaters in allen Ausgaben fortgelassen und erst von Berthold Litzmann in einer philologischen<br />
Dissertation (1880) abgedruckt. Sodann möchte ich die Frage auswerfen, ob nicht der Fluch<br />
des Faust (unmittelbar vor dem Pakte mit dem Teufel) einen bewußten oder unbewußten<br />
Anklang bringe an die wilde Lebensverfluchung Günthers, den Goethe kannte und schätzte,<br />
vielleicht auch seine damals ungedruckten Gedichte. "Fluch sei der Hoffnung! Fluch dem<br />
Glauben, und Fluch vor allen der Geduld." Das überraschende Schlußwort "Geduld",<br />
sonst fast eine Abschwächung, wäre aus dem Pathos heraus erklärt, das bei Günther zu Anfang<br />
und zu Ende des Gedichtes aufschreit. — Weil ich nun einmal von England auf den Kontinent<br />
zurückgekehrt bin, will ich doch nachtragen, aus welchem Grunde ich die lyrischen Gotteslästerungen<br />
der Franzosen nicht ebenso gebucht habe wie die von Byron und Swinburne.<br />
Es hat unter den Franzosen der letzten oder vorletzten Jugend Himmelstürmer genug gegeben;<br />
aber mir scheint, daß ihnen allen der Ernst der Leidenschaft fehle in ihrem Atheismus<br />
oder die Leidenschaft des Ernstes. Ich wähle Jean Richepin (geb. 1849) zum Beispiel, der<br />
doch in seinen Gedichten eigener war als in seinen Romanen. Er hat sich in seinem Gedichtbande<br />
"Les blasphèmes" (1884) antikirchlich ausgetobt. Es gibt da ein Stück, La Mort des<br />
Dieux, worin Gott ein Schlächterkönig genannt und die Ausstreichung aller Wörter verlangt<br />
wird, die Göttliches bedeuten; und der Versuch gewagt wird — ohne Erfolg —, die Blasphemien<br />
von Voltaire und Parny zu überbieten. Andere Gedichte (L'Apologie du Diable,<br />
Prière de l'Athée, Le Juif-errant) treiben das gleiche Spiel: gutgereimte Wiederholungen<br />
eines halben, eines christelnden Atheismus. Als ob Victor Hugo noch verwässert worden<br />
wäre.<br />
Heilsarmee 163<br />
Der diese Armee aus der Erde stampfte, war der methodistische Prediger<br />
William Booth (geb. 1829, gest. 1912), der mit mittelalterlicher Intoleranz<br />
das Bibelwort "Nötige sie, hereinzukommen" wieder zu seiner Richtschnur<br />
nahm und kein Mittel allermodernster amerikanischer Reklame dabei verschmähte.<br />
Die Arbeit begann um 1865 und hatte schon 1880 gewaltige<br />
Erfolge aufzuweisen. Angefangen hatte es mit der "Rettung" von Trunkenbolden,<br />
Dieben und Huren; durch die Suggestionskraft der öffentlichen<br />
Bekehrungen erreichte dieses "aggressive Christentum" ein solches Ansehen,<br />
daß im Lande der englischen Hochkirche die kirchlichen und staatlichen Machthaber<br />
sich zu beugen anfingen und ungeheure Summen für die Heilsarmee<br />
bereitgestellt wurden. Schon 1883 konnte der Führer seinen in<br />
Elend und Laster verkommenen Proletariern zurufen lassen: Gott wische<br />
ihre Tränen mit Fünfpfundnoten ab. Die militärische Einkleidung der<br />
gläubigen Massen schien anfangs nur ein Spiel zu sein; es könnte aber einmal<br />
mehr als ein Spiel werden, wenn die Allmacht, die dem General<br />
Booth oder seinem Nachfolger über das Geld und über die Offiziere der<br />
Armee zu Gebote steht, ernsthaft an die Eroberung der Welt gehen wollte.<br />
Ungefähr so war es ja bei der Stiftung des Islam zugegangen, lärmend<br />
und rücksichtslos, wenn auch natürlich noch ohne die amerikanischen Erfindungen<br />
der Zeitungsreklame und der bewußten Massenhypnose.<br />
Die Heilsarmee ist so arm an geistigen Grundsätzen, daß darüber<br />
wirklich nicht viel zu sagen ist. Die Ungläubigen müssen bekehrt werden:<br />
mit List (also Betrug), solange die öffentliche Meinung Gewalt nicht gestattet.<br />
Ein Theologe war der General Booth wahrlich nicht. Vom christlichen<br />
Katechismus bleibt wenig übrig, noch weniger vom Alten Testament.<br />
Der Gottesdienst ist nach dem Grundsatze eines Theaterpächters geordnet:<br />
Alles ist erlaubt, was nicht langweilt. Gegen die bestehenden alten Kirchen<br />
wird aus früheren Dissenters zusammengetragen, was irgend noch wirkungsvoll<br />
scheint. Es wäre nicht unmöglich, daß die Bewegung (wenn sie nicht<br />
unter dem jetzt regierenden Sohne von William Booth wieder zusammenbricht)<br />
sich mit der sozialistischen Armee der anderen, der arbeitenden Proletarier<br />
verbände zu einem bedrohlichen Ansturm gegen den internationalen<br />
Kapitalismus; es wäre aber wirklich auch möglich, daß sich aus der ungeistigen<br />
Heilsarmee eine neue Kirche entwickelte, mit neuen Dogmen,<br />
mit neuen Pfaffen, mit der alten Unduldsamkeit.<br />
Der handelnde Mensch kann kaum seinen Abscheu unterdrücken vor<br />
den Gefahren, die der Geistesbefreiung von der Heilsarmee, wie etwa<br />
auch von den in ähnlicher Weise verspotteten Spiritisten oder Theosophen,<br />
drohen. In der Sprache Englands drohen. Der betrachtende Mensch<br />
stellt sich aber die nachdenkliche Frage: Stehen wir mit unserem Spotte