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Band 4 - m-presse

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384 Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />

gruppen habe keine Gemeinschaft mehr in der Kirche, weil es eine kirchlich<br />

geleitete Kultur nicht mehr gibt. Was hätte da noch die alte Theologie für<br />

eine Aufgabe? Offenbar keine, wenn nur nicht der Verfasser einen neuen<br />

Begriff entwickelte, einen Theologie-Ersatz, den er „Theonomie" nennt.<br />

Wer erfahren will, daß scholastische Dialektik auch im jüngsten Protestantismus<br />

nicht ausgestorben ist, der lese den Abschnitt, dessen Sprache ich nur<br />

durch das "Gesetz" andeuten will: "Je mehr Form, desto mehr Autonomie,<br />

je mehr Gehalt, desto mehr Theonomie." Doch Tillich ist trotz alledem<br />

ein Verächter der bisherigen Kirchentheologie, der er ja eben seine Kulturtheologie<br />

getrost gegenüberstellt. Veraltet findet er, wenn ich seine krausen<br />

Sätze recht verstehe, die beiden bisherigen Stellungen der Theologie zur<br />

Kultur, nämlich die der katholischen und der altprotestantischen Theologie;<br />

das Heil beruhe in einem Fortschreiten der Reformation, die beileibe keine<br />

Revolution werden darf — wie ja schon Luther den armen Bauern entgegenschrie.<br />

Das Heil beruhe ferner auf einer Wiederbelebung der theologischen<br />

Fakultät, die zwar als eine vermeintliche Wissenschaft von Gott<br />

mit Recht verdächtig geworden ist, die aber unter dem Banner der Theonomie<br />

zum Angriff übergehen muß. Wenn ich wieder recht verstehe: die<br />

Theologie, aber als Theonomie verkleidet, soll die Stelle der Philosophie<br />

einnehmen. (Doch will ich nicht unerwähnt lassen, daß Tillich, auch gemeinsam<br />

mit Wegener, gut aufklärende Aufsätze über "Sozialismus als<br />

Kirchenfrage" und „Masse und Religion" geschrieben hat, nur leider in<br />

einer dem Volke schwer zugänglichen Sprache.) In welcher er besser als<br />

ich zu sagen imstande ist, was „Religion" eigentlich sei; doch hat sich Tillich<br />

jüngst sehr gut und verdienstlich gegen den sinnlos fortgeschleppten Begriff<br />

„Gotteslästerung" ausgesprochen.<br />

Im alten Deutschland konnte auch der Sozialismus es zu einer freien<br />

religiösen Gemeindebildung nicht bringen. Zu schwer lastete auf den<br />

Gewissen die Staatskirche und die Einrichtung des Oberkirchenrats. Die<br />

Freireligiösen wurden von der Polizei unaufhörlich gestört oder belästigt,<br />

als ob sie Verbrecher gewesen wären. Just in Deutschland hätte sich das<br />

Sektenwesen inbrünstiger und heilkräftiger entwickeln können, als sonst<br />

irgendwo; doch die Machthaber und ihre Oberkirchenräte wollten Unterdrückung<br />

der Sekten und setzten ihren Willen selbst gegen Bismarck durch.<br />

Die Proletarier endlich, als Partei, waren mißtrauisch — sie hatten Grund<br />

dazu — gegen jeden, der zu ihnen mit Sozialismus und zugleich mit Religion<br />

kam. Da hatte ein ehrlicher Arbeiterfreund, wie der ehemalige<br />

Göhre Pfarrer Göhre, einen schweren Stand. Und selbst er faßte erst nach dem<br />

Zusammenbruch von 1918 den Entschluß, sein Äußerstes zu sagen. Mir<br />

hat das Buch dieses ganz Freireligiösen einen Dienst geleistet, eine Weg­<br />

Göhre 385<br />

stärkung, kurz vor dem Ende meiner mühevollen Bergsteigung. Mir<br />

wurde mit einem Male klar bewußt, an welchem Punkte die Wege sich<br />

scheiden, an welchem Punkte ich doch einige Schritte höher führe als die<br />

besten Freireligiösen. Bescheidener ausgedrückt: wo die Wegweiser mit<br />

rätselhaften Inschriften stehen, denen ich nicht mehr folge.<br />

Ich will zunächst das kleine, leidenschaftliche, mutige Buch so nacherzählen,<br />

als ob ich völlig übereinstimmte; uns trennt wirklich nur ein einziges,<br />

einsilbiges Wort. Nur das kurze, in manchen Redensarten schon tonlos<br />

gewordene Wörtchen „Gott". Der Verfasser, in der protestantischen Orthodoxie<br />

geschult, endet als Mann von sechsundfünfzig Jahren in freidenkerischer<br />

Konfessionslosigkeit. Sein Buch "Der unbekannte Gott, Versuch<br />

einer Religion des modernen Menschen" hat er vor einigen Jahren während<br />

des Krieges vollendet und nennt es das erlösende Wort für die Suchenden<br />

unserer Zeit. Unzweideutig sind seine Gedanken. Der moderne Mensch,<br />

wie er sich seit der Reformation entwickelt hat, ist ein Diesseitigkeitsmensch.<br />

(Göhre scheint mir den Schlagworten der materialistischen Naturwissenschaft<br />

trotz seines tiefen Idealismus allzusehr zu vertrauen.) Selbst die<br />

Seele ist ihm diesseitig vertraut als ein Stoffwechselprozeß. Die Fähigkeit,<br />

sich in Überweltliches zu versenken, ist ihm abhanden gekommen. Er ist<br />

ein Tatsachenmensch. Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit sind ihm<br />

identisch. Alles Wirkliche und Notwendige erscheint ihm im Gewande<br />

des Gesetzmäßigem Er kennt keinen wesentlichen Unterschied mehr zwischen<br />

sich und dem Tiere. Auch seine Moral ist diesseitig, relativ. Der Tod<br />

hat seine Furchtbarkeit verloren. Handeln ist ihm Alles; Fürchten, Hoffen<br />

ist ihm Nichts. Aber der moderne Mensch sei ja noch nicht fertig; er habe<br />

vielleicht nicht einmal zahlenmäßig bereits das Übergewicht; dazu trage<br />

er die Leichen seiner Ahnen mit sich herum. Gedankengänge aus der<br />

Zeit der kirchlichen Frömmigkeit, aus der Zeit des Christentums.<br />

Göhre ist also kein Christ mehr. Mit aller Ehrfurcht vor der Persönlichkeit<br />

Jesu Christi weiß e r , daß sich da e i n e u r a l t e Weltanschauung ver­<br />

körpert hat, die Weltanschauung der toten Juden und der toten Griechen,<br />

eine Weltanschauung, die wir nicht einmal mehr physisch zu fassen vermögen.<br />

Ihnen war das Nahe unbekannt, unheimlich, fremd, das Ferne war<br />

ihnen vertraut. Wundervoll dabei die D a r s t e l l u n g vom Leben und der<br />

"weltüberrennenden Frömmigkeit" des Heilands. Überzeugend die Entstehung<br />

der Legenden von Auferstehung usw., die Entstehung des christlichen<br />

Glaubensbekenntnisses. Auf dem Wege der phantastischen Konstruk­<br />

­­­­ ­­­­ ­­ ­­­­­­­ ­­­­­ ­­­­­­­­ ­­­ ­­­­­­ ­­­­­ ­­­ ­­­­­­ ­­­­­­­­­war<br />

seitdem die Theologie um einen Gedankensprung, um eine Spekulation<br />

verlegen, und ist der Sprung gemacht, so erscheint alles wie aus

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