29.10.2013 Aufrufe

Band 4 - m-presse

Band 4 - m-presse

Band 4 - m-presse

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

294 Viertes Buch. Achter Abschnitt<br />

eigentlichen Religion Christi gesetzt. "So blieb denn als letzter Rettungsanker<br />

des modernen Christentums nur noch die ursprüngliche, echte und<br />

reine Lehre Jesu übrig. Der Liberalismus entschloß sich zu dem äußersten<br />

Schritte der Reaktion: die ganze Entwicklungsgeschichte des Christentums<br />

sollte gestrichen werden und die christliche Religion in das Entwicklungsstadium<br />

zurückschrumpfen, in welchem sie sich befand, als ihr angeblicher<br />

Stifter sie aus der Wiege hob" (S. 40). Und dieses Zurückgehen auf den<br />

Stifter selbst sei eben, wie wir erfahren haben, eine Berufung auf ein<br />

weißes Blatt, auf etwas, was ursprünglich gar keine neue Religion war.<br />

Nach dieser schneidenden Kritik der protestantischen Theologie fühlt sich<br />

aber Hartmann doch verpflichtet, noch eine positive Leistung hinzuzufügen<br />

und den Grundstein zu einer Religion der Zukunft zu legen. Mit erbärmlich<br />

geringem Erfolge. Dem irreligiösen Protestantismus will er irgendwelche<br />

übersinnliche, irreale oder mystische Vorstellungen gegenüberstellen,<br />

die er als metaphysisch bezeichnet, um sie für wissenschaftlich ausgeben<br />

zu können. Es läuft jedoch auf das metaphysische Bedürfnis des Volkes<br />

heraus (Schopenhauer), also wieder auf ein Mysterium, das aber, um für<br />

die Wissenschaft erträglich zu sein, die Gestalt „einer auf induktivem Wege<br />

sich als notwendig ergebenden Hypothese" annehmen muß. Der liberale<br />

Protestantismus besitze eine solche Metaphysik nicht, sei nur ein Mischmasch<br />

aus dem platten Theismus der Aufklärungszeit und der Gefühlssentimentalität<br />

etwa Schleiermachers, er stehe außerhalb der Philosophie, sei eine<br />

Scheinfassade, hinter der der Aberglaube an den Materialismus erstehe.<br />

Nur in der Negation der Dogmen sei der liberale Protestantismus stark<br />

und ehrlich gewesen. Ihm sei z. B. das Gebet eine bewußte Selbsttäuschung,<br />

das nur günstige psychologische Rückwirkungen habe, wie ein kräftiger<br />

Fluch, der auch den Sackträger zu erneuter Anstrengung stärkt, wenn der<br />

Sack zu schwer scheint. (In diesem Zusammenhange wendet sich Hartmann<br />

gegen Strauß, zugleich aber auch gegen Nietzsches Strauß-Kritik, "unerquicklich<br />

in formeller Hinsicht", und, mit einer beachtenswerten Anerkennung<br />

des unheimlichen Gegners, gegen die glänzende "Faschingstollheit" Mar<br />

Stirners.) Auch damit, daß man die Liebe oder die Herzensgüte für das<br />

Wesen der Religion ausgebe, sei für das metaphysische Bedürfnis nichts<br />

getan. „Es ist wahr, die Religion ist kein Haifisch, wie die Inquisitoren<br />

glaubten, aber sie ist auch keine Qualle; ein Haifisch kann doch wenigstens<br />

fürchterlich sein, eine Qualle ist immer nur wabblig" (S. 86). Der liberale<br />

Protestantismus habe sich dadurch zumeist gegen die Wahrheit versündigt,<br />

d. h. gegen Hartmanns Wortschall einer pessimistischen Weltansicht, daß er<br />

wenigstens praktisch dem Optimismus huldige. Mit diesem liberalen Protestantismus<br />

habe die christliche Idee ihre Lebensbahn bis zu Ende durch­<br />

Eduard v. Hartmann 295<br />

laufen; der modernen Bildung gegenüber sei sie unhaltbar geworden,<br />

eine neue Religion sei nötig, könne aber von der Wissenschaft nicht unmittelbar<br />

erstellt werden. Die neue Religion müsse aus einem neuen Gefühl<br />

erwachsen; zuerst müsse die Menschheit den höchsten Grad der weltlichen<br />

Kultur erreichen, sodann die ganze jämmerliche Armseligkeit dieses<br />

Fortschritts überschauen und endlich so zu einer allgemeinen pessimistischen<br />

Weltansicht gelangen. Dadurch würde ein Mischmasch (Hartmann sagt<br />

viel philosophischer „Synthese") aller östlichen und westlichen, pantheistischen<br />

und monotheistischen Religionen möglich und „erst Sinn in die Weltgeschichte"<br />

gebracht werden.<br />

In diesem Glauben will Hartmann bescheiden sich darauf beschränken,<br />

einige Bausteine zu der Religion der Zukunft aus der Religionsgeschichte<br />

zusammenzulesen. Der Eine Gott, dem aus der Zeit des Polytheismus<br />

allzu menschliche Eigenschaften ankleben, müsse zu einem unpersönlichen,<br />

immanenten Gotte werden; der Monotheismus müsse sich vor der Vernunft<br />

rechtfertigen können. Ein Pantheismus, in den (ähnlich wie bei Hegel)<br />

ein tiefer metaphysischer Sinn der Trinität (S. 108) hineingeheimnist,<br />

wird; eine Verkoppelung des jüdischen Monotheismus und der indischen<br />

Immanenz, nebst einigen dunklen Gedanken des Laotse. Eine solche<br />

metaphysische Weltanschauung soll langsam in die tieferen Schichten des<br />

Volksbewußtseins hineinsickern. An Stelle des persönlichen Judengottes<br />

wird in dem echt arischen Deutschland der unpersönliche Pantheismus<br />

treten können, ein „eudämonologischer Pessimismus", unter welchem<br />

Hartmann sich vielleicht etwas Widerspruchloses denkt. „Auch hinsichtlich<br />

der Ethik haben wir demnach mehr aus dem Buddhismus als aus dem<br />

Christentum zu entlehnen, wobei noch hinzuzufügen, daß außer dem Monismus<br />

auch der Pessimismus nur im Buddhismus ausdrücklich zur Begründung<br />

der Sittlichkeit benutzt wird" (S. 118).<br />

Schließlich läßt sich Hartmann in seiner Sorge für das metaphysische<br />

Volksbedürfnis so weit herab, auch noch einige Andeutungen über den<br />

Kultus der künftigen Weltreligion zu machen: dieser werde innerlicher sein<br />

müssen als der der heutigen Religion. Und die letzte Forderung an die<br />

Zukunft lautet, daß die Entwicklung zu einem religiösen Individualismus<br />

führen müsse. Wobei es mir nur fraglich scheint, ob eine solche individuelle<br />

Befriedigung ohne Gemeinsamkeit des Symbols und der Sprache noch<br />

auf den Namen Religion Anspruch machen könne.<br />

Wunderlich genug, daß in den Jahrzehnten, da Bismarcks Politik<br />

den Wohlstand Deutschlands in ungeahnter Weise hob und so einen praktischen<br />

„Materialismus" in Handel, Industrie und Lebensgewohnheiten<br />

begünstigte, daß da zugleich die Beschäftigung mit einer neuen Meta­

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!