Band 4 - m-presse
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354 Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />
fügte hinzu: Schopenhauer war der Mörder Gottes, weil er durch philosophische<br />
Begründung des Mitleids die Unwahrheit der Mitleidsreligion<br />
zu deutlichem Bewußtsein brachte. Man achte darauf, daß der häßlichste<br />
Mensch zu den höheren Menschen gehört, die (im 4. Teile des Zarathustra)<br />
den ungeheuern Notschrei nach der neuen Zeit erheben.<br />
Als Nietzsche im September 1888, nur ein Vierteljahr vor seiner Erkrankung,<br />
den "Antichrist" hinwühlte, als eines der Bücher des geplanten<br />
Hauptwerks, da war er bei voller geistiger Klarheit doch überreizt. Das<br />
geht aber nur die Form an; er ist weniger Künstler als früher, er schreit<br />
öfter als sonst. Schon das Vorwort verrät einen Hochmut, den Nietzsche<br />
sonst vornehmer äußerte. Er schreibe nur für wenige Leser; "der Rest ist<br />
bloß die Menschheit". Aber er schreit diesen Rest der Menschheit an.<br />
Wieder trägt er seine stolze Lehre vom Herrenrecht des Starken vor.<br />
Gut ist, was den Willen zur Macht erhöht; schlecht ist, was aus der Schwäche<br />
stammt. Das Christentum ist schädlicher als irgendein Laster; es hat<br />
einen Todkrieg gegen den Übermenschen geführt, es hat das Herdentier,<br />
das kranke Tier Mensch gezüchtet, den Christen, es hat der natürlichen<br />
Moral, die eine Auswahl des Starken will, das Mitleiden mit dem Mißratenen<br />
entgegengestellt. Die Theologie ist die verbreitetste Form der<br />
Falschheit. In Deutschland ist die Philosophie durch die Theologie verderbt<br />
worden, die protestantische Philosophie durch die protestantische Theologie,<br />
diese hinterlistige Theologie. Der Protestantismus ist die halbseitige<br />
Lähmung des Christentums und der Vernunft. Ein Hemmschuh nur war<br />
Luther, war Leibniz, war Kant. (Es ist grauenhaft, aber was Buben und<br />
Pfaffen gegen Nietzsche geltend machen, das hat der vornehme Nietzsche<br />
in einem bübischen Augenblicke gegen Kant gesündigt: "Kant wurde<br />
Idiot".) Auch der Buddhismus versteht das Leiden der Menschen, aber er<br />
kennt den Begriff der Sünde nicht, daher auch nicht die Grausamkeit gegen<br />
den Sünder, gegen den Andersdenkenden. Das Christentum will über<br />
Raubtiere Herr werden, indem es sie krank macht. Es hat, wie vorher das<br />
Judentum, die Moral und die Geschichte gefälscht und zu diesem Zwecke<br />
die große literarische Fälschung begangen, durch eine Offenbarung den<br />
Willen Gottes festzustellen. Die Aufdeckung solcher Fälschungen ist für<br />
Nietzsche keine ernste Beschäftigung mehr; mit lachender Überlegenheit<br />
verhöhnt er David Strauß, der an Heiligenlegenden, der zweideutigsten<br />
Literatur, seine gelehrte Neugier übte, und den Hanswurst Renan. Frei<br />
von allem Historismus (in psychologicis), den er schon als Unzeitgemäßer so<br />
prachtvoll bekämpft hatte, wird Nietzsche im Kampfe gegen die Historiker<br />
des Christentums und der Christologie leider mitunter unhistorisch, so unhistorisch,<br />
daß er für die Entstehung der Religionen, also auch des Christen<br />
Antichrist Nietzsche 355<br />
tums, deutlich und undeutlich sehr oft die Betrugshypothese in Anspruch<br />
nimmt. Vollends durch die Kirche sei die kranke Barbarei selbst zur Macht<br />
geworden; und die Anerkennung dieser Macht sei heute nicht mehr die<br />
Äußerung einer Geisteskrankheit, sondern bewußte Unwahrheit. "Was<br />
ehemals bloß krank war, heute ward es unanständig — es ist unanständig,<br />
heute Christ zu sein." Die Begriffe Jenseits, Jüngstes Gericht, Unsterblichkeit<br />
der Seele und Seele selbst sind nur noch Folterinstrumente und<br />
Lügen der Priester. „Jedermann weiß das und trotzdem bleibt alles beim<br />
alten." Sogar unsere Staatsmänner, sonst Antichristen der Tat durch<br />
und durch, nennen sich noch Christen und gehen zum Abendmahl. Auch<br />
Fürsten. In Hinsicht auf Christen wird die Lehre von der Affenabkunft<br />
zur bloßen Artigkeit. Das Christentum verspricht Alles, aber hält Nichts.<br />
Durch die Jenseits-Lehre wird das Leben um seinen Sinn gebracht, wird<br />
aber der Sieg des Christentums bei dem Auswurf und Abhub der Menschheit<br />
entschieden. Die ersten Christen rochen so übel wie die polnischen<br />
Juden; das Neue Testament ist unreinlicher und unsympathischer als jedes<br />
andere Buch. Man tut gut daran, Handschuhe anzuziehen, wenn man das<br />
Neue Testament liest; darin Pilatus die einzige Figur, die man ehren muß.<br />
(Weil er einen Judenhandel nicht ernst nimmt.) Man kann nicht Philolog<br />
oder Arzt sein, ohne beim Lesen der Bibel Antichrist zu werden; der Arzt<br />
sagt „unheilbar", der Philolog „Schwindel" (Nietzsche will heftig sein:<br />
„Meine Stimme erreicht auch die Harthörigen"). Das Christentum war<br />
bisher das größte Unglück der Menschheit.<br />
Weder die Lust am Glauben (der Beweis der Lust ist ein Beweis<br />
für Lust), noch das Kreuz, noch die Märtyrer sind Argumente; Glauben<br />
heißt Nicht-Wissen-Wollen. Alle großen Geister waren Skeptiker.<br />
Zwischen Lüge und Überzeugung besteht kein Unterschied, der Parteimensch<br />
wird mit Notwendigkeit Lügner. Auf den Zweck der Lüge kommt es an;<br />
das Christentum hat in seiner unergründlichen Gemeinheit den Zweck<br />
verfolgt, alle Werte des vornehmen Menschen verächtlich zu machen, die<br />
ganze Arbeit der antiken Welt (deren Bedeutung der Philologe Nietzsche<br />
maßlos überschätzt) zu vernichten; das Christentum war anarchistisch. Das<br />
Christentum und der Alkohol waren die beiden großen Mittel zur Korruption<br />
(für den deutschen Adel). Die neue Lebensaufgabe ist, durch eine<br />
Umwertung der christlichen Werte den vornehmen Werten zum Siege zu<br />
verhelfen; diese Abschaffung des Christentums wäre in der Renaissance<br />
möglich gewesen (durch Cesare Borgia als Papst), da trat Luther dazwischen,<br />
mit allen rachsüchtigen Instinkten eines verunglückten Priesters im Leibe,<br />
und empörte sich in Rom gegen die Renaissance. Wenn man nicht fertig<br />
wird mit dem Christentume, die Deutschen werden daran so schuld sein mit