Band 4 - m-presse
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108 Viertes Buch. Zweiter Abschnitt<br />
Schreiern und Tugendbolden den Prozeß machen zu können; aus der<br />
Tiefe des Gemüts, ohne Einsicht in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft<br />
hatte der ehrliche Gleichmacher Cajus Grachus (eigentlich: François<br />
No\" el) Babeuf diesen Putsch, von manchem agent provocateur der Regierung<br />
unterstützt, begonnen und hatte dann seine "Schuld", unmittelbar nach<br />
der Verurteilung, durch die Tragikomödie eines öffentlichen Selbstmordes<br />
(1797) gebüßt; er fand Jünger, die aber über den brutal-platonischen<br />
Kommunismus der Schreckenszeit nicht hinaus dachten. Der Sozialismus<br />
war noch nicht gedacht, noch nicht erschaut. Der realpolitische Sozialismus,<br />
der lange Zeit gar nicht wußte, daß er den Arbeitern des Maschinenzeitalters<br />
ein neues Evangelium und ein neues Dogma brachte.<br />
Eine Ausnahmestellung unter den bedeutenden sozialistischen Führern<br />
nahm allein der prachtvolle Begründer des englischen Sozialismus ein,<br />
der Patriarch von New Lanark, der sozialistische Fabrikherr Robert Owen.<br />
Auch er, der den Wirklichkeitssinn der Engländer mit großen Gedanken des<br />
Herzens verband, war mit der Kirche zerfallen. (Der erste Bodenreformer,<br />
Charles Hall,--- er lebte etwa 1745 bis 1825 --- war noch kirchlich.)<br />
Robert Owen (geb. 1771, gest. 1858) war von Menschenliebe getrieben<br />
worden, für eine neue Gesellschaftsform durch Wort und Tat zu wirken,<br />
die Fragen eines persönlichen Arbeitsschutzes und einer allgemeinen<br />
Arbeitsbörse zum erstenmal aufzuwerfen, sein Leben in Handeln und<br />
Träumen dem neuen Ideal der Genossenschaft zu widmen. Viele utopistische<br />
Versuche mißglückten ihm; doch seine Hauptforderungen setzten<br />
sich durch, und er hätte sich als Greis, von den Arbeitern und von vielen<br />
Machthabern gefeiert, als Sieger fühlen können, wenn er nicht von der<br />
englischen Hochkirche und ihren Lohnschreibern mit Schmutz und Lüge<br />
verfolgt worden wäre. (Über seine Persönlichkeit und seine Ideen mag<br />
man sich unterrichten aus dem schönen Buche von Helene Simon.)<br />
Owen hatte seine schriftstellerische Agitation, die er bis über sein<br />
achtzigstes Jahr hinaus fortsetzte, 1816 begonnen, und schon ein Jahr darauf,<br />
von priesterlichen Verleumdungen gereizt, leidenschaftlich den herrschenden<br />
Religionen Kampf angesagt. Seine eigene Frau, streng calvinistisch erzogen,<br />
schauderte vor seinem Unglauben zurück. Er lehnte alle Lehrsätze<br />
aller christlichen Konfessionen ab und war tief durchdrungen von der Überzeugung,<br />
daß das Christentum, entgegen allen Redensarten der Pfaffen,<br />
nur Unduldsamkeit zwischen den Völkern und Ausbeutung der Armen<br />
gefördert hätte, daß alle christlichen Konfessionen Kräfte der Auflösung<br />
gewesen wären. Aber auch ihn befriedigte dieser negative Standpunkt<br />
nicht. Wie die reinsten Sozialistenführer, zu denen ich den ehrgeizigen<br />
und machtlüsternen Lassalle nicht rechnen kann, fühlte er sich zu einem<br />
Owen 109<br />
Messias berufen, zum Stifter der neuen Vernunftreligion der Nächstenliebe.<br />
So unwiderstehlich wirkten die Worte der theologischen Zeit nach,<br />
daß Owen wie alle schriftstellernden Führer des gottlosen Sozialismus<br />
ihre lebenschaffende Lehre mit den toten Symbolen der alten Sprache<br />
belasteten; sie wußten sehr gut, daß kein menschliches Forschen uns irgendeine<br />
Auskunft geben könne über das Wesen und die Eigenschaften eines<br />
höchsten Wesens, aber sie redeten trotzdem von einer Anbetung des höchsten<br />
Wesens und liebten es, dieses untermenschliche Stammeln die Religion<br />
der Zukunft zu nennen.<br />
Ein Mensch ganz anderer Art war der Franzose, der dem Sozialis Saint-Simon<br />
mus für viele Jahrzehnte einen Eigennamen gab, der Graf Henri Saint-<br />
Simon (geb. 1760, gest. 1825), der Enkel des berühmten Memoirenschreibers,<br />
des Herzogs von Saint-Simon. Wahrlich kein vorbildlicher<br />
Mann in seiner Lebensführung: meistergeschäftig, bevor er die Weltverbesserung<br />
als seine Aufgabe entdeckt hatte, ein Streber nach allen<br />
verfeinerten Lebensgenüssen, in der Revolution ein Schieber und Geldspekulant,<br />
arm geworden zwar gleicherweise zu jeder Arbeit und zu jedem<br />
Bettel bereit, reich geworden ein Verschwender; den Gelehrten seiner Zeit<br />
stellte er als Grandseigneur seine volle Börse zur Verfügung. "J'ai de<br />
cela." Wieder verarmt, lebte er (von 1805 bis 1810) von den Ersparnissen<br />
eines ehemaligen Dieners. Als er, inzwischen durch seine Schriften bekannt<br />
geworden, immer auf die Wohltätigkeit seiner Verehrer angewiesen,<br />
Not oder bescheidene Lebensführung nicht ertragen konnte, machte er<br />
(1823) einen Selbstmordversuch; "Un jour il voulut, rejetant cette vie, aller<br />
se plaindre à Dieu", sang der Dichter Halévy, sein Freund. Ein anderer<br />
Jude, ein Bankier, unterstützte ihn reichlich in den letzten beiden Jahren<br />
seines Lebens. Und auch Saint-Simon, der zu einem Genußkünstler<br />
geboren schien, war ein Weltverbesserer, der kühnsten einer, der die Vernichtung<br />
aller Religion predigte, doch eben predigte, weil auch er in seiner<br />
eigenen allzumenschlichen Persönlichkeit den neuen Messias sah. Und der<br />
Saintsimonismus, wie er durch den Jünger Bazard fester gestaltet wurde,<br />
war geneigt, in der Zukunftswelt des Sozialismus beinahe eine neue<br />
Theokratie zu erblicken, einen Gottesstaat freilich, dessen Gott niemand<br />
kannte und dessen Heilige die Hohepriester der Wissenschaft und der Industrie<br />
sein sollten; die Führer auf dem Wege zum Glück werden geradezu "dépositaires de la<br />
religion genannt. Weder das Wort "Gott" noch das Wort<br />
„Priester" wird preisgegeben.<br />
Unter den Wirkungen des gottlosen Sozialismus ist eine der ein Emanzipation<br />
schneidendsten die, daß das Verhältnis der Geschlechter --- allerdings nach der Frau<br />
sehr verschiedenen Gedankengängen --- sich da und dort von der Heuchelei